Drei Wochen schon habe ich
nichts von ihr gehört. Kein Anruf, keine WhatsApp, keine Mail. Drei Wochen,
ungewöhnlich lange für die junge Frau aus Eritrea, die vor vier Jahren aus
ihrer Heimat über Äthiopien, Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland geflohen
war. Bis vor Kurzem waren wir fast täglich zusammen, vor über einem Jahr war
Senait in das leere Zimmer meiner Tochter gezogen, die schon vor längerer Zeit
zum Studium in eine andere Stadt gegangen war.
Nun ist Senait wieder weg,
umgezogen in einen lebendigen Berliner Kiez mit Menschen vieler Nationalitäten,
in eine Jugend-WG eines Jugendhilfeträgers. Senait, die eigentlich anders
heißt, ist jetzt 21. Ein Alter, in dem sie ihren Alltag eher mit anderen jungen
Menschen statt mit mir teilen sollte. Mit denen sie intensiver als mit mir über
ihre Sorgen, Ängste und Freuden reden kann. Die da sind, wenn sie sie braucht –
ich bin viel unterwegs.
Eines Abends Anfang Januar, als
wir nach dem Essen zusammen in der Küche saßen, fragte ich sie, was sie von
einer eigenen Wohnung hielte. Eine eigene Wohnung? Ihre Augen leuchteten, um
ihre Mundwinkel schlich sich ein vorsichtiges Lächeln. Da wusste ich: Ab jetzt
geht es ohne mich, ab jetzt wird Senait gut zurechtkommen in dem Land, das sie
zu ihrer neuen Heimat auserkoren hat.
Bis zu dem Moment im Januar war
ich für Senait so etwas wie eine Mutter. Das sagte sie häufig. Wenn ich ihr
beispielsweise erklärte, welche Wäsche sie bei 60 und welche besser bei 30 Grad
waschen sollte, in welchen Container im Hof die braunen und in welchen die
weißen Flaschen gehörten. Wenn wir wieder mal vor einem der grauen
Schreibtische im Jobcenter saßen, weil mit der Berechnung von Senaits
Sozialgeld etwas nicht stimmte. Wenn wir nach dem Schwimmen in der Halle unter
die heiße Dusche stiegen. Wenn wir auf dem Land unterwegs waren und ich
versuchte, ihr die deutsche Agrarwirtschaft zu erklären. “Jetzt bist du meine
Mutter”, sagte sie dann. In ihrem Lachen, das sie hinterherschob, lagen
gleichermaßen Dankbarkeit und Sehnsucht. Nach ihrer richtigen Mutter, nach den
Gerüchen ihres Dorfes, nach der Sonne in Eritrea.
Senait ist eine von 70.000
Frauen und Männern aus Eritrea, die nach Angaben des Ausländerzentralregisters
derzeit in Deutschland leben. Senait hat ihre Familie in dem kleinen Ort
nordwestlich der Hauptstadt Asmara über Nacht verlassen. Geflohen aus Angst, in
die Armee eingezogen zu werden. In dem afrikanischen Land müssen infolge des
jahrzehntelangen Unabhängigkeitskriegs mit dem Nachbarstaat Äthiopien auch Frauen zur Armee. Das
hat sich auch durch die aktuelle Entspannung zwischen beiden Ländern nicht
geändert. Zudem wird Eritrea weiterhin von einem Diktator beherrscht, Frauen
ist vor allem die Rolle im Haus zugedacht: kaum Bildung, keine ökonomische
Unabhängigkeit, männlicher Willkür ausgesetzt.
Einen Tag nachdem Senait, ein
paar Helfer und ich ihre unzähligen Taschen mit Kleidung, Küchenutensilien und
Schuhen ins Auto gestopft und in ihr neues Zuhause gefahren hatten, stand Senait
wieder vor meiner Tür. Sie hatte Sehnsucht. Wir gingen ein Eis essen, und als
wir auf einer Bank sitzend einen genussvollen Moment schwiegen, legte sie ihren
Kopf auf meine Schulter und sagte: “Heute Nacht habe ich von dir geträumt.”
Fast hätte ich gesagt: Komm doch
wieder zurück. Das habe ich aber nicht getan, bewusst nicht. Denn wir wissen
beide, dass es besser so ist, wie es jetzt ist. Unsere gemeinsame Zeit war von
Anfang an begrenzt, unser Zusammenleben ein Experiment – für beide Seiten. Aber
es ist gelungen. Und diese drei Wochen ohne ein Zeichen von Senait sind ein
beruhigendes Zeichen: Es scheint ihr gut zu gehen.
Senait hat viel vor. Sie will in
Deutschland bleiben und Krankenschwester werden. Ich bin mir sicher: Sie wird
es schaffen. So wie sie all das, was sie bislang vorhatte, auch geschafft hat.
Als sie noch in der Flüchtlingsunterkunft lebte, in einem zwölf Quadratmeter
großen Zimmer, zusammen mit einer jungen Frau aus Syrien, hat sich Senait nie
beirren lassen. Sie ist jeden Morgen pünktlich aufgestanden und zum Deutschkurs
gegangen, sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und alle Termine bei den Behörden
eingehalten. Sie hat regelmäßig gekocht und ist sorgsam mit dem wenigen Geld
umgegangen, das sie hatte. Manch andere Bewohner*innen im Heim vermochten all
das nicht, einige machten sich über sie lustig: Du bist ja schon “richtig
deutsch”.
Später, als sie schon bei mir
wohnte, hatte sie ein top Smartphone, einen Laptop – und viele Ideen. Nach dem
Integrationskurs suchte sie sich eine neue Schule, ein Oberstufenzentrum mit
dem Schwerpunkt Gesundheit, sie machte zwei Praktika in einem Altenpflegeheim und
in einem Krankenhaus. Am Wochenende ging sie nicht nur zum Gottesdienst in
einer eritreisch-orthodoxen Kirche, sondern auch noch zum Computerkurs. An
manchen Abenden fragte ich sie Englischvokabeln ab und erklärte ihr
Prozentrechnung. Mitunter war mir das alles zu viel. Ich arbeite gefühlt
ununterbrochen, bin oft bis spät abends unterwegs und müde, wenn ich nach Hause
komme. Dann sagte ich schon mal zu Senait: “Ich kann deinen Vortrag über die
Körperfunktionen heute nicht mehr abhören, ich muss sofort ins Bett.”
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