/Verkehrssicherheit: Wenn Raser von Kindern Saures bekommen

Verkehrssicherheit: Wenn Raser von Kindern Saures bekommen

Für eine Verkehrskontrolle ist die Stimmung exzellent.
“Jetzt schnappen wir mal einen, der zu schnell fährt”, sagt Martin Schwanitz,
und die 21 Kinder der zweiten Klasse rufen “Jaaaa!”. Ein Mädchen hofft, dass ihr
Papa vorbeifährt und mit der roten Kelle rausgewunken wird, das wäre lustig.
Für sie.

Martin Schwanitz, seit 18 Jahren bei der Polizei, hat ein
Lasermessgerät mit Stativ aufgebaut, es sieht aus wie eine kleine Videokamera.
Er visiert einen schwarzen BMW in etwa 100 Meter Entfernung an.
Das Gerät piept und zeigt in roten Ziffern die Geschwindigkeit an: 45 km/h. Dabei
steht da hinten ein großes Schild mit der Aufschrift “Kindergarten” und einer
rot umringten “30”. Schwanitz hebt die Kelle und winkt den Wagen zur Seite. Die
Fahrerin bekommt heute kein Bußgeld, sondern eine härtere Strafe: Sie soll den
Zweitklässlern der Grundschule Bardowick südöstlich von Hamburg erklären, warum
sie zu schnell war.

“Fahren Sie immer so schnell?”, fragt ein Mädchen.

“Nein”, sagt die Frau stockend. “Normal 30. Das ist ja meine
Haus- und Hofstrecke. Aber ich war abgelenkt.”

“Durch was?”, will das Mädchen wissen.

“Weiß ich nicht”, stammelt die Frau. “Das ist blöd, ganz
blöd. Das war nicht gut.”

“Warst du in Gedanken?”, fragt ein anderes Mädchen.

“Ja”, sagt die Fahrerin und wirkt jetzt, als sei sie den
Tränen nahe. Sie ist eine frühere Lehrerin der Grundschule Bardowick. Und würde
sich wohl am liebsten in Luft auflösen.

Dann reichen die Kinder ihr zur Strafe ein Stück Zitrone, die
Fahrerin muss hineinbeißen. “Saure Zitrone” heißt diese Aktion von Martin
Schwanitz, die er heute mit zweiten Klassen durchführt. Der
Verkehrssicherheitsberater der Polizeiinspektion Lüneburg will die Autofahrerinnen
und Autofahrer zum Nachdenken anregen. Und natürlich auch die Kinder. “Sind eure
Eltern schon mal geblitzt worden?”, fragt er. Und fast alle Schüler rufen wieder
fröhlich im Chor: “Jaaaaaa!”

Viele Jahre arbeitete der 39-jährige Oberkommissar im
Streifendienst, er hat unzählige Verkehrskontrollen durchgeführt. Wenn keine
Kinder dabei sind, sagt er, sei die Palette an Ausreden riesig. “Da hört man
alles, außer: Ich habe was falsch gemacht. Oder: Entschuldigung.” Irgendwann
konnte Schwanitz keine Auto- oder Radfahrer mehr kontrollieren. Er war es leid,
dass er ständig “rigoros angelogen wurde”, dass alle nur auf die anderen
zeigten, überall Fehler sahen, nur nicht bei sich selbst.

“Aber bei den Kindern mit Ausreden zu kommen, fällt schwer”,
sagt er. Er hofft an diesem Vormittag auf ein bisschen Wahrhaftigkeit.

Eine junge Frau im mintgrünen Mini ist ertappt, sie hat in
der Dreißigerzone sogar noch von 39 auf 44 km/h beschleunigt.

“Warum waren Sie so schnell?”, fragt eine Schülerin.

“Gute Frage. Man hat’s eilig”, sagt die junge Frau, die
Reitkleidung trägt. “Zu Hause liegt meine Bachelorarbeit auf dem Tisch.”

“Waren Sie in Gedanken?”, fragt diesmal ein Junge.

“Ja, das trifft’s ganz gut. Ich war gerade im Kopf bei
meiner Einkaufsliste, weil ich auf dem Weg zum Supermarkt bin.”

“Hier ist 30”, sagt ein Mädchen streng, “Sie müssen sich das merken”

Ich war in Gedanken – das sagen die meisten erwischten Fahrerinnen
und Fahrer an diesem Morgen, auch die mit Kindersitz auf der Rückbank. So oft,
dass die Schüler bald schon automatisch danach fragen. Bis es einem Mädchen
reicht. “Beim Autofahren soll man nicht an seine Gedanken denken, sondern
einfach vernünftig Auto fahren”, weist es einen Mann zurecht, der sich mit der Standardausrede
rechtfertigt.

Andere Begründungen kommen auch nicht besser an. Ein Fahrer
sagt, er habe über seine Freisprecheinrichtung telefoniert, das sei erlaubt,
aber es habe ihn wohl trotzdem abgelenkt. Ein älteres Ehepaar, aus dessen Auto
das Radio plärrt, sagt, sie seien am Quatschen gewesen und hätten nicht auf den
Tacho geschaut. Für die Schüler sind das keine akzeptablen Gründe, vor einem
Kindergarten zu schnell zu fahren. “Hier ist 30”, sagt ein Mädchen streng, “Sie
müssen sich das merken.”

Die Kinder haben mit den Verkehrsregeln offenkundig weniger
Probleme als manche Erwachsenen. Vielleicht, weil sie die Schwächsten sind im
Straßenverkehr, und viele Regeln geschrieben wurden, um die Schwachen zu
schützen.

Doch wie kommt es dann, dass sich viele Verkehrsteilnehmer irgendwann
nicht mehr um die Regeln scheren? Das könnte mit schlechten Vorbildern zu tun haben, vermutet Martin Schwanitz. Für ihn fängt das Problem schon bei
Fußballstars an, die selbst nach dem härtesten Foul theatralisch abstreiten, ihren
Gegenspieler auch nur berührt zu haben. Auch in vielen anderen Bereichen der
Gesellschaft werde vorgelebt, dass man sich durchsetzen müsse, die Ellenbogen
ausfahren. “Die Kinder sehen beim Aufwachsen, dass man damit durchkommt”, sagt er.

Sein kleiner Widerstand sind kreative Aktionen. In
Berufsschulen lässt er Jugendliche mit Kettcars über einen Parcours fahren und
gleichzeitig mit dem Handy spielen – dann sehen sie selbst, wie sie vom Weg
abkommen und die Hütchen umfahren. In Schulen setzt er Jugendlichen spezielle Brillen
auf, die einen Rausch simulieren und die Optik verzerren. Gerade überlegt er
sich, ob er ein Foto auf Facebook stellen soll, das er kürzlich aufgenommen
hat: ein Skelett auf einem Motorrad.

Aber eigentlich will er nicht mit Schockbildern arbeiten,
sondern seine Botschaft positiv vermitteln, mit Humor. Deshalb winkt er vor dem
Kindergarten in Bardowick ab und zu auch Autofahrer heraus, die korrekt
gefahren sind. Die Kinder applaudieren ihnen stürmisch und überreichen eine
Dankesurkunde mit lächelnden Zitronen darauf.

Und dann, der Vormittag ist schon fast vorbei, entsteigt ein
sichtlich nervöser grauhaariger Mann einem silbernen Kastenwagen. “Ich bin der
Schlimme”, sagt er und lacht kurz.

“Warum sind Sie zu schnell gefahren?”, fragt ein Junge.

“Weil ich geschlafen habe, vor mich hingeträumt”, sagt der
Mann.

“Sind Sie wieder in Gedanken versunken?”, fragt der Schüler
routiniert.

“Ja. Wenn man zur Arbeit geht, überlegt man schon, was einen
dort erwartet. Das Peinliche an dieser Situation ist, dass ich in einer
Fahrschule arbeite”, sagt der Mann.

“Warum sind Sie denn zu schnell gefahren, obwohl Sie bei der
Fahrschule sind?”, will ein Mädchen wissen.

“Ja, das ist ‘ne peinliche Frage”, sagt der Mann. Seine Hände
zittern jetzt. “Ich habe zu wenig gebremst.”

Martin Schwanitz hat Unfälle mit Kindern und verkohlten
Leichen gesehen, er hat die Bilder nicht vergessen. Fragt man ihn nach
Lösungen, erzählt er von der Schweiz, wo es hohe Strafen und ein dichtes
Kontrollnetz gebe. “Es würde gehen”, sagt er. Aber derzeit sei das
Entdeckungsrisiko in Deutschland so gering, dass viele Verkehrsteilnehmer die
Regeln ignorieren könnten, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Das gelte
auch für Fahrrad- und Motorradfahrer.

Kurz vor Mittag entschuldigt sich tatsächlich noch ein zu
schneller Škoda-Fahrer bei den Kindern, als Einziger an diesem Tag – und Schwanitz
fragt die Schüler, was sie gelernt haben. “Wenn wir später mal Auto fahren,
sollen wir auf die Verkehrsregeln achten”, sagt ein Mädchen. “Man sollte mehr
Blitzer aufstellen”, sagt ein anderes. “Aber man sollte die Blitzer gut
verstecken”, sagt eine dritte Schülern, “damit die Autofahrer sie nicht sehen
können.”

Dann teilen sie die restlichen Zitronen untereinander auf.

 

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