Bei einer kleinen Wanderung durch die Berge gerieten meine Frau und ich
kürzlich in eine etwas unangenehme Situation. Wir waren auf unserer Route auf eine Absperrung
gestoßen, der Weg, stand auf einem Schild daneben zu lesen, sei derzeit nicht gangbar. Weil
wir so toll sind, kletterten wir über die Absperrung, stellten bald fest, dass zwar ein paar
Bäume auf den Pfad gefallen waren und auch eine Brücke über einen Bach zusammengebrochen war,
aber wir sahen darin keine sonderlichen Hindernisse, wir kamen gut durch. Später jedoch trafen
wir einen anderen Wanderer, der wegen der Absperrung offenbar umgedreht war. Der Mann sprach
uns frustriert an, ob uns die Sperre auch einen Strich durch die Rechnung gemacht habe. “Ja,
leider”, antwortete ich wie aus der Pistole geschossen. “Nein, wir sind einfach
drübergeklettert”, sagte im selben Moment meine Frau. Der arme Mann schaute uns irritiert
hinterher, während wir schnell weitergingen.
Ich glaube nicht, dass ich den Mann angelogen habe, weil ich Angst vor seiner Reaktion gehabt hätte, der war ja kein Förster oder so. Die Lüge kam mir, meine ich, so schnell über die Lippen, weil sie mir sozusagen wie unschuldiges soziales Schmieröl erschien, wie etwas, das die Situation reibungsloser gestalten, auch eine mögliche Diskussion ersparen würde. “Das Ziel des Lügners”, heißt es bei Oscar Wilde, “ist einfach, zu bezaubern, zu entzücken, zu erfreuen. Er ist das Fundament der zivilisierten Gesellschaft.” In diesem Sinne sah ich meine Unwahrheit als kleinen Beitrag zur zivilisierten Gesellschaft, denn ich wollte halt nicht, dass der Mann sich entweder über uns ärgert, weil wir uns nicht an die Regeln halten, oder über sich selbst, weil er sich offenbar als Einziger an die Regeln hielt. Ich wollte ihm gewissermaßen eine Freude bereiten. Ich log aus einer Art von Höflichkeit.
Meine Frau unterdessen blieb straight. Sie fand, wie ich eigentlich auch, was wir getan hatten, nicht gerade schlimm, sie dachte im Gegenteil vielleicht sogar, dass man so einen Mann auch einmal dazu erziehen könnte, sich nicht immer an die Regeln zu halten. Meine Frau hatte außerdem wohl keine Lust, sich um seinetwillen in den inneren Konflikt zu stürzen, der mit dem Schwindeln in der Regel einhergeht. Ich verstehe das sehr gut, denn auch meine kleine, wohlgemeinte Lüge war für mich selbst verbunden mit so etwas wie einem winzigen seelischen Stromschlag. “Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen”, so was sitzt ja sehr tief beziehungsweise sehr hoch: das Über-Ich.
Seit diesem Ereignis denke ich jedenfalls über das Verhältnis von Wahrheit, Schönheit und Lüge nach. Denn Wilde sagt im Grunde ja, die Lüge trage zur Schönheit der Welt bei. Dem klassisch gebildeten Teutonen unterdessen rollen sich bei diesem Aphorismus die Zehennägel auf. “Hierzulande”, sagt er und haut dabei mit seinem Humpen auf den Kneipentisch, dass es schwappt, “gilt dieser Zynismus nicht! Hier heißt es: das Wahre, Schöne, Gute! Die Unwahrheit ist stets hässlich!”
Wer hat recht? Ich fände es ein interessantes soziales Experiment, mal zu schauen, was passiert, wenn alle mit dem höflichen Lügen aufhörten. Wie wäre es zum Beispiel, wenn man auf die Frage von Fremden oder Halbbekannten nach dem eigenen Befinden stets wahrheitsgemäß antwortete? Die ungeschriebene Regel ist ja, dass diese Frage nicht ernst genommen werden darf. Ich glaube, wenn man auf das “Wie geht’s?” stets eine ernst gemeinte Antwort gäbe, “Ziemlich schlecht” etwa, dann würde es aussterben. Wir würden feststellen, dass sich der Großteil der Mitmenschen für das Befinden anderer nicht ernsthaft interessiert. Oder ein anderer Klassiker: das ästhetische Urteil. “Schön, oder?”; “Gut, oder?”.
Wahrheitsliebe beim Small Talk wäre furchtbar anstrengend. Immer wieder würde man sich ärgern müssen über seine Mitmenschen, weil die nicht so reagieren wie von uns gewünscht, weil die uns mit ihrer Offenheit kränken und verletzen. Aber diese Wahrheitsliebe hätte wohl auch zur Konsequenz, dass wir mehr Klarheit bekämen über die Welt, in der wir leben, darüber, was tatsächlich gilt, wer wir tatsächlich sind und wer die anderen, dass wir also aufgeklärter, ja freier wären. Und wäre die Wahrheit daher nicht vielleicht doch schöner und guter als die kleine Lüge, Darling Oscar?
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