Es ist beinahe
20 Jahre her, da saß ich abends allein zu Hause und langweilte mich. Ein
paar Gläser Wein waren vermutlich auch noch im Spiel, jedenfalls fasste ich
irgendwann den Entschluss, endlich ernst zu machen mit dem, was ich mir schon
immer mal vorgenommen hatte: mich parteipolitisch zu engagieren. Ich schrieb
also eine lange E-Mail an die SPD (damals war diese Partei noch eine
Volkspartei) und erklärte meine Absicht, mit anzupacken. Hochzufrieden ging ich
schlafen. Ich sah mich schon im Bundestag.
Kurz darauf
erhielt ich Post von den Jusos. Sie sprachen mich irritierenderweise mit
“Liebe Genossin” an und luden mich zu einem Marxismus-Seminar ein,
das in einer Jugendherberge stattfinden sollte. Man würde dort in
Mehrbettzimmern übernachten. Schnell schrieb ich zurück, ich hätte mich im
Rahmen meines Germanistikstudiums eigentlich schon genug mit Marxismus
beschäftigt und müsse das nicht unbedingt noch mal tun. Dass ich nie – niemals,
unter gar keinen Umständen – mehrere Tage mit wildfremden Menschen in einem
Mehrbettzimmer verbringen würde, behielt ich für mich. Von den Jusos hörte ich
nie wieder.
Eine Weile später
lernte ich zufällig jemanden aus dem SPD-Ortsverein kennen und erzählte ihm vom
gescheiterten Erstkontakt mit seiner Partei. Er wollte wissen, welche
politischen Themen ich überhaupt besetzen könne, ich stammelte etwas von Kultur
und von Frauen. Mitleidig sah er mich an und meinte: “Du solltest dir erst
mal was Richtiges suchen.” Ich kapitulierte. Sozialphobikerinnen mit
irrelevanten Themen hatten im knallharten Politikgeschäft offenbar nichts zu
suchen. Von da an richtete ich mich – wie so viele Kulturschaffende – in der
Überzeugung ein, künstlerische Arbeit sei doch schon genug gesellschaftliches
Engagement.
Bei der Recherche
zu einem Theaterstück im vergangenen Jahr, das sich mit der Düsseldorfer
Kommunalpolitik befasste, stellte sich heraus, dass die “Willkommenskultur”
in den Parteien auch heute noch so richtig ausgeprägt ist: Mit Glück sagt einem einer
Hallo und erklärt die zu absolvierende Tagesordnung, mit Pech sitzt man
verschüchtert beim Ortsverband (allein bei der SPD heißt es
“-verein”) herum und versteht nur Bahnhof. Dabei sind die Türen der
Parteien sperrangelweit offen, alle wollen und brauchen neue Mitglieder.
Andererseits hat kaum ein Mandatsträger Zeit und Lust, sich um die Neuen zu
kümmern. Die ja immer Konkurrenz bedeuten können. Auch deshalb bleibt die
Politik in der Vorstellung vieler Bürgerinnen und Bürger ein geschlossenes
System mit eigenem Code, das mit ihrer Lebenswirklichkeit nur wenig
Schnittmengen aufweist.
Das war nicht immer so. Im Athen der Antike, wo
die Demokratie bekanntlich erfunden wurde, musste jeder Bürger damit rechnen,
für eine Weile politische Verantwortung zu übernehmen – die Idee von
Berufspolitikern hätte man auf der Agora ziemlich seltsam gefunden. Schon von
Perikles ist folgendes Zitat überliefert: “Wir vereinigen in uns die Sorge um unser Haus
zugleich und unsere Stadt, und den verschiedenen Tätigkeiten zugewandt, ist
doch auch in staatlichen Dingen keiner ohne Urteil. Denn einzig bei uns heißt
einer, der daran gar keinen Teil nimmt, nicht ein stiller Bürger, sondern ein
schlechter.” Und Aristoteles schreibt: “Grundlage der demokratischen
Verfassung ist die Freiheit. Von der Freiheit aber ist zunächst ein Stück, dass
das Regieren und Regiertwerden reihum geht.” Rotation der Regierung also: Im
alten Athen musste man darauf gefasst sein, für eine begrenzte Zeit in der
Judikative, Legislative oder Exekutive zu dienen – nach dem Zufallsprinzip, das
Ganze wurde nämlich ausgelost. Auf diese Weise sollte die Anfälligkeit für
Korruption und Klüngelei minimiert werden.
Angesichts der Vertrauenskrise, in der sich die repräsentative Demokratie
gerade befindet, könnte es vielleicht eine gute Idee sein, sich auf ihre
antiken Ursprünge zu besinnen. Wie der
belgische Historiker David van Reybrouck, der es 2016 mit seinem flammenden
Plädoyer für die aleatorische Demokratie Gegen Wahlen – Warum Abstimmen
nicht demokratisch ist auf die Bestsellerliste schaffte. Aleatorische
Demokratie – von alea, Würfel – bedeutet, dass Bürgerinnen und Bürger per
Losverfahren zeitweise herangezogen werden können für politische Arbeit,
ähnlich wie heute zum Beispiel noch beim Schöffendienst. Van Reybrouck regt an, dass sie sich, anstelle von Berufspolitikern, in
offenen Diskussionen selbst Expertenwissen aneignen, Vorschläge machen und dann
darüber abstimmen.
Tatsächlich gibt es bereits Beispiele solcher
Bürgerversammlungen, die erfolgreich in politische Entscheidungs- und
Gestaltungsprozesse einbezogen wurden. So erarbeiteten 100 nach
dem Zufallsprinzip bestimmte irische Bürgerinnen und Bürger 2013 gemeinsam mit drei Politikern ein Jahr lang acht neue Verfassungsartikel, die – nachdem sie
einen Volksentscheid passierten – unter anderem die Eheschließung “ungeachtet des
Geschlechts” für gesetzmäßig erklären. Ein paar Jahre später diskutierte
eine weitere ausgeloste Bürgerversammlung über die Liberalisierung des
Abtreibungsgesetzes (Irland hatte bis dahin eines der strengsten in der EU). Ihrer Empfehlung, das Abtreibungsverbot zu lockern, folgten im Referendum von
2018 gut 66 Prozent der irischen Bevölkerung.
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