In Deutschland werden immer noch häufig Fluorchinolone verschrieben: eine Antibiotikagruppe, die schwerwiegende Nebenwirkungen haben kann. Obwohl diese Risiken schon seit Jahren bekannt sind, erhielten 2018 mehr als drei Millionen aller gesetzlich krankenversicherten Patienten entsprechende Präparate. Das ist das Ergebnis einer Berechnung des Wissenschaftlichen Instituts der Krankenkasse AOK (WIdO). 40.000 der Patienten könnten, so die Hochrechnung des WIdO, von Sehnenrissen, Schädigungen des Nervensystems sowie der Hauptschlagader betroffen sein.
Mit Antibiotika werden Infektionen behandelt, die durch Bakterien ausgelöst werden. Im europäischen Vergleich werden diese in Deutschland zwar seltener verschrieben. Trotzdem stieg der Verbrauch zwischen 1994 und 2014 nach Angaben des Europäischen Zentrums für Krankheitskontrolle und Prävention in Stockholm (ECDC) auch in Deutschland an. 2018 wurden nach Erfassung des WIdO 310 Millionen Antibiotika-Tagesdosen verordnet – davon entfielen 8,2 Prozent oder 25,6 Millionen Tagesdosen auf die Fluorchinolon-Antibiotika.
Auf Basis von AOK-Daten gibt das WIdO an, dass 3,8 Millionen Patienten im Jahr 2017 und 3,2 Millionen Patienten 2018 mit einem Medikament aus dieser Wirkstoffgruppe behandelt wurden. Jährlich wären das etwa fünf Prozent der mehr als 72 Millionen gesetzlich Krankenversicherten.
Geschätzt 40.000 Fälle von Nebenwirkungen
Die WIdO schätzt, dass es zu 40.000 Fluorchinolon-spezifischen Nebenwirkungen gekommen ist. Diese Schätzung fällt laut Stefan Pieper sehr konservativ aus. Der Allgemeinmediziner aus Konstanz und Experte für Schäden durch Fluorchinolone verweist auf Untersuchungen aus den USA, die weitaus höhere Zahlen ergeben hätten. “Umgerechnet auf Deutschland wären es hierzulande fast 400.000 Fälle pro Jahr”, so Pieper. Zudem sei nur ein Teil der möglichen Nebenwirkungen in das Dossier eingegangen.
In den USA werden die Folgen der Nebenwirkungen als “Fluoroquinolone-Associated Disability” (FQAD, etwa: mit Fluorchinolon zusammenhängende Schädigungen) bezeichnet und sind als Erkrankung anerkannt. Pieper arbeitet derzeit an der Entwicklung von Diagnosekriterien für FQAD und hat den ersten deutschsprachigen Fachartikel zum Thema geschrieben.
Nebenwirkungen ließen sich laut Pieper in vier Gruppen einteilen. Erstens griffen Fluorchinolone das Kollagen im Körper an, was zu Sehnenrissen, Netzhautablösungen und Arterienrissen führen könne. Zweitens hätten diese Antibiotika eine neurotoxische Wirkung, welche langfristige, teils schwer zu behandelnde Nervenschäden auslösen könnten. Eine dritte mögliche Nebenwirkung betreffe Neurobotenstoffe, deren Rezeptoren durch Fluorchinolone blockiert werden könnten. Patienten würden dann unruhig, ängstlich oder panisch und könnten gar suizidale Tendenzen entwickeln. Und schließlich sei ein Chronisches Erschöpfungssyndrom möglich.
Der Arzt und Apotheker Wolfgang Becker-Brüser von der Fachzeitschrift Arznei-Telegramm sagt, dass Fluorchinolone “absolute Reservemittel” sein sollten, die nur eingesetzt werden sollten, wenn nichts anderes hilft. Auch das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) veröffentlichte im April dieses Jahrs einen sogenannten Rote-Hand-Brief, in dem stand, dass Ärzte Fluorchinolone wegen schwerer Nebenwirkungen nur noch im Einzelfall verschreiben sollen. Zuvor hatte das Amt 2017 ein europäisches Risikobewertungsverfahren angestoßen.
Bundesinstitut unter Kritik
Im WIdO-Report wird kritisch angemerkt, das BfArM habe verspätet auf die bekannten Risiken reagiert. Auf Nachfrage entgegnet die Behörde dazu schriftlich: “Das BfArM beschäftigt sich nicht erst seit der Auslösung des Risikobewertungsverfahrens 2017 mit Risiken im Zusammenhang mit der Anwendung von Fluorchinolonen, sondern war und ist fortlaufend in die Überwachung und Bewertung der Sicherheit fluorchinolonhaltiger Arzneimittel auf europäischer Ebene eingebunden.”
Das Bundesinstitut verweist dazu auf mehrere Rote-Hand-Briefe und Publikationen zum Thema, aber auch auf die Verantwortung von Ärzten und Patienten. Zudem seien Fluorchinolone in nahezu allen europäischen Ländern zugelassen, Maßnahmen zur Änderung der Zulassungsbedingungen müssten auf europäischer Ebene abgestimmt werden.
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