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Brexit: Die Wahl als Strafgericht

In nahezu allen Ländern haben die Bürgerinnen und Bürger bei der Europawahl
das Parteiensystem aufgemischt. In Großbritannien aber haben sie es regelrecht
zertrümmert
. Bei den Konservativen und bei Labour blieb kein Stein auf dem
anderen. Es ist ein Debakel und die beiden etablierten Parteien sind ganz
allein schuld daran.

Die tief gespaltenen Konservativen haben ihre bisher
unvorstellbaren 8,7 Prozent ebenso verdient wie die richtungslos schwankende
Labour Party mit ihren ebenso grausamen 14,1 Prozent. Auf die alles entscheidende Frage, wie sie das Land geordnet aus der EU herausführen
wollen, haben beide Parteien drei Jahre lang keine Antwort gefunden. In
endlosen Parlamentsdebatten haben sie nicht ein einziges Mal zu einer
konstruktiven Mehrheit zusammengefunden. Ihr Versagen war offenkundig und die
Wählerinnen und Wähler haben Konservative und Labour gnadenlos abgestraft.

Gelöst ist damit leider nichts. Nicht nur, weil die Sieger
bei der Europawahl – wie etwa die Brexit-Partei – in Großbritannien nur eine außerparlamentarische Opposition sind: Die
Verlierer bleiben im Unterhaus unter sich, an den Stimmenverhältnissen dort hat
sich nichts geändert.

Mehr noch, die neue britische außerparlamentarische Opposition ist beim Thema Brexit genauso
polarisiert wie das Parlament in Westminister. Rechnet man das Ergebnis der
Europagegner von Nigel Farages Brexit-Partei mit dem seiner alten UKIP
zusammen, kommen sie auf 35,3 Prozent der Stimmen. Addiert man die
Ergebnisse der Europafreunde von Liberaldemokraten, Grünen, Schottischen
Nationalisten und der neu gegründeten Partei Change UK, so erreichen sie
zusammen 35,8 Prozent der Stimmen. Beide Lager haben mobilisiert – und beide
halten sich die Waage. Die Europawahl, von manchem als Ersatz-Referendum
betrachtet, hat noch einmal gezeigt, wie tief der Riss ist, der durch die
britische Gesellschaft geht.

Die Tories interessieren sich nur für Mays Nachfolge

Aber gänzlich unbeeindruckt von ihrem Absturz in Tiefen, die
selbst deutsche Sozialdemokraten wie Siegertypen strahlen lassen, diskutieren
die Konservativen nicht etwa über baldige Neuwahlen, sondern allein über die
Frage, wen sie als Nachfolger von Theresa May zum neuen Premierminister küren sollen.
Boris Johnson gilt als hoher Favorit – ausgerechnet der Hasardeur Johnson, der
wie kein zweiter verantwortlich ist für Großbritanniens Weg ins politische Elend.

Bei den überwiegend europaskeptischen Mitgliedern der Tories
ist Johnson populär, weil er Schluss machen will mit Theresa Mays Nachgiebigkeit
gegenüber Brüssel und – am Ende ihrer Amtszeit – auch gegenüber Labour. In ihrer
Rücktrittserklärung
hatte May den Konservativen einen Rat mit auf den Weg
gegeben: “Vergesst nie, dass Kompromiss kein schmutziges Wort ist. Das Leben ist
auf den Kompromiss angewiesen.”

Diesen Rat hat Boris Johnson – großspurig wie immer – sofort
in den Wind geschlagen. “Wir werden die EU am 31. Oktober verlassen”, kündigte
er an, “mit Deal oder ohne. Einen guten Deal bekommt man nur dann, wenn man
bereit ist, auf einen Deal zu verzichten.”

Genau einen solchen No-Deal-Brexit,
also die EU ohne Abkommen zu verlassen, hat das Parlament
abgelehnt. Boris Johnson und die anderen Hardliner bei den Tories stört das
nicht. Im Gegenteil, das Scheitern Mays und der Wahlsieg von Nigel Farage
bestärken sie in ihrem Kurs der Kompromisslosigkeit.

Für die Konservativen ist die Partei wichtiger als das Land

Und so könnten die rund 100.000 Parteimitglieder der
Konservativen mit der Wahl des neuen Premiers dafür sorgen, dass sich
Großbritannien von Europa auf die harte Tour verabschiedet. Das würde nicht nur bedeuten, den Mehrheitswillen des Unterhauses zu missachten – obwohl staatsrechtlich vollkommen
unklar ist, ob sich ein Premierminister einfach über den erklärten Willen des
Parlaments hinwegsetzen darf. Es wäre auch ein Affront gegen die britischen
Wähler, von denen allenfalls ein gutes Drittel für einen harten Brexit ist, wie die Europawahl gezeigt hat. 

Es gibt nur zwei saubere Auswege aus dem Debakel, in das die
Tories das Land gesteuert haben: ein zweites Referendum und Neuwahlen. Zu
beidem sind die Konservativen bisher nicht bereit. Bei ihnen kommt noch immer erst
die Partei, dann das Land. Für die traditionsreichste europäische Demokratie
ist das eine Tragödie. Und es sieht ganz so aus, als habe diese Tragödie ihren
tiefsten Schmerz noch nicht erreicht.

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