DIE ZEIT:
Frau Buyx, ist unser Gesundheitssystem ein Spiegel der Gesellschaft?
Alena Buyx:
Ich würde sogar sagen, dass die Medizin insgesamt ein Spiegel der Gesellschaft ist. Sie
zeigt Wertvorstellungen, Trends und Veränderungen. Eben hat die Weltgesundheitsorganisation
neue Erkrankungen definiert, zum Beispiel Videospielsucht und zwanghaftes Sexualverhalten,
auch online. Diese Krankheiten gab es vor 30 Jahren noch nicht.
ZEIT:
Ist das Gesundheitssystem auch ein Frühwarnsystem?
Buyx:
Leider manchmal ein Spätwarnsystem. Es dauert lange, bis wir etwas als Krankheit
definieren, und dann ist es oft zu spät. Im Fall der Online-Spielsucht etwa hätte man viel
früher gewisse Einhegungen entwickeln müssen.
ZEIT:
Es gibt in der Gesellschaft eine Tendenz zur Individualisierung. In der Vermächtnis-Studie
wollen nur 26 Prozent, dass in Zukunft Menschen, die mehr bezahlen, eine bessere
medizinische Behandlung erhalten. Zugleich befürchten 55 Prozent, dass es so kommen wird.
Zerreißt diese Entwicklung das Solidarsystem im Gesundheitsbereich?
Buyx:
Es gibt eine starke Individualisierung, trotzdem ist der Einzelne immer noch ein Teil der
Gesellschaft und auf Gemeinschaft angewiesen. Studien belegen, dass Einsamkeit ein Killer
ist, ein Morbiditätsfaktor, der stark unterschätzt wird, gerade bei älteren Menschen. Es
gibt zwar immer mehr personalisierte medizinische Angebote, doch auf der anderen Seite zeigt
die Vermächtnis-Studie auch, dass die Bürger unser solidarisches Gesundheitssystem unbedingt
bewahren wollen. Nur zehn Prozent wollen, dass die Krankenkassenbeiträge an den
Gesundheitszustand gekoppelt sind. Das Bedürfnis nach Individualisierung und das Bedürfnis
nach Solidarität existieren parallel. Ein Paradox der modernen Zeit.
ZEIT:
Das Gesundheitssystem ist ein Wachstumsmarkt, die Rendite muss stimmen. Wie passt diese
Ökonomisierung zum Solidaritätsprinzip?
Buyx:
Marktwirtschaftliches Denken im Gesundheitssystem ist nicht verwerflich. Wettbewerb etwa
kann viele positive Effekte haben. Doch sobald reine Gewinnmaximierung Einzug hält, gibt es
eine klare Kollision mit der ärztlichen Ethik, die fordert, jeden Patienten möglichst gut zu
versorgen. In Krankenhäusern, in denen maximale Gewinne eingefahren werden sollen,
unterliegen alle einer Zeit- und Ressourcenknute. Da habe ich Bedenken. Der Wettbewerb darf
nicht in eine Logik reiner Gewinnmaximierung kippen. Es braucht eine Balance.
ZEIT:
Gibt es diese Balance derzeit?
Buyx:
Teils nicht. Kaufmännisches und ärztliches Denken können gut gemeinsam funktionieren, aber
ersteres darf letzteres nicht vor sich hertreiben. In der Medizin darf es ruhig um Leistung,
Kopfpauschalen und Erlöse gehen – aber diese dürfen die klinische Entscheidungsfindung nicht
zu stark beeinflussen.
ZEIT:
Es gibt noch andere Formen der Ökonomisierung, zum Beispiel die Selbstkontrolle mithilfe
von Apps. Man sammelt seine Gesundheitsdaten, schickt sie an die Krankenkasse und wird für
sein Wohlverhalten belohnt. Eine gute Sache?
Buyx:
Durchaus, wenn es zu gesünderem Verhalten anregt. Das Problem ist aber: Krankheiten haben
oft mehrere Ursachen, und oft ist es nicht möglich, dem Einzelnen eine direkte Verantwortung
zuzuweisen. Ob eine genetische Prädisposition vorliegt oder ein bestimmtes Verhalten zu
Bluthochdruck führt, kann im Einzelfall schwer festzustellen sein.
ZEIT:
Ich kann mich doch frei entscheiden, ob ich gesund oder ungesund lebe.
Buyx:
Unser Gesundheitsverhalten ist nie vollkommen selbstbestimmt. Es wird etwa durch das
Essverhalten in den ersten drei Jahren geprägt, hier werden die Weichen gestellt, wie sich
jemand in seinem Leben ernährt. Zudem hängt gesundheitsbewusstes Verhalten auch mit dem
sozialen Status zusammen, mit Bildung. Insgesamt ist es für manche leichter, Anreizen für
gesundes Verhalten zu folgen, als für andere. Das Solidarversprechen könnte Schaden nehmen,
wenn es heißt: “Du trinkst und bist dick, selbst schuld, raus mit dir.”
ZEIT:
Bald wird man schon im Kindesalter durch Erbgutanalyse das Krankheitsschicksal einer
Person vorhersagen können. Gene lügen nicht.
Buyx:
Dass Gene nicht lügen, ist zwar ein knackiger Satz, doch er stimmt so nicht. Nicht jede
genetische Prädisposition führt zu einer Erkrankung, es gibt eine Wechselwirkung zwischen
den Genen, und es gibt eine Wechselwirkung zwischen unserer genetischen Natur und unserer
Umwelt. Es stimmt natürlich: Wir werden bald deutlich mehr über uns wissen – aber es wird
uns nicht immer helfen, weil wir nicht immer genau vorhersagen können, was tatsächlich
passieren wird. Eine Krankheit kann eben eintreten, muss aber nicht. Oft sind Empfehlungen
zur Risikovorsorge noch dieselben wie vor 50 Jahren. Rauche nicht, trinke nicht, bleib
schlank, treibe Sport, achte auf Ausgleich.
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