DIE ZEIT:
Herr Schulz, von wem stammt der Satz: “Die SPD war immer dann am erfolgreichsten, wenn wir
große Beständigkeit in unserer Führung hatten”?
Martin Schulz:
Das habe ich in einem Interview mit der
ZEIT
gesagt, nach der letzten
Bundestagswahl.
ZEIT:
Gilt dieser Satz noch?
Schulz:
Eine Erfahrung teilen wir doch alle, die die SPD in den vergangenen Jahren geführt haben,
von Kurt Beck über Sigmar Gabriel und mich, bis jetzt ganz aktuell zu Andrea Nahles: Wenn du
mehr Zeit darauf verwenden musst, dich mit den Intrigen im eigenen Lager zu befassen als mit
dem politischen Gegner, dann schwächt das jeden Vorsitzenden.
ZEIT:Andrea Nahles hat angekündigt, sich vorzeitig am kommenden Dienstag einer Wiederwahl als
Fraktionsvorsitzende zu stellen. Tritt sie damit die Flucht nach vorn an?
Schulz:
Diese Wahl ist für September angesetzt. Der Fraktion sollte die Zeit gegeben werden, die
letzten Entwicklungen zu analysieren.
ZEIT:
Treten Sie gegen Frau Nahles an?
Schulz:
Diese Frage stellt sich zurzeit nicht. Wir sollten Ruhe bewahren und die richtigen
Entscheidungen zur richtigen Zeit treffen.
ZEIT:
In der SPD heißt es, Sie hätten schon länger Ihre Chancen sondiert, Nahles in einer
Kampfabstimmung schlagen zu können. Was ist da dran?
Schulz:
Was hier gelaufen ist, kenne ich aus dem Bundestagwahlkampf 2017. Ich habe in den letzten
Wochen 94 Wahlkampftermine für die SPD wahrgenommen. Während ich auf den Straßen unterwegs
war, streuten einige in Berliner Hinterzimmern Gerüchte. Die, die das machen, haben nicht
das Interesse von Andrea Nahles im Auge, ganz sicherlich nicht meins – und schon gar nicht
das der SPD. Es ist ein Kernproblem der SPD, dass viel zu viele ständig dabei sind, Intrigen
zu schmieden. Ich mache dieses Spielchen nicht mit.
ZEIT:
Was ist falsch gelaufen im Europawahlkampf?
Schulz:
Ich sage Ihnen erst mal, was gut gelaufen ist: eine kämpferische Basis, die sich hinter
Katarina Barley versammelt hat. Aber einen Europawahlkampf muss man europäisch führen. Wir
haben es versäumt, ein Thema zu entwickeln, das unsere Stammwähler motiviert. Das sehen wir
auch am enormen Anteil unserer Wählerschaft, der ins Nichtwählerlager gewandert ist.
Frieden, Klima, die Verteidigung der Demokratie gegen die Rechtspopulisten – das sind die
großen Themen unserer Zeit. Mit diesem Dreiklang hätten wir womöglich ein besseres Ergebnis
herausgeholt.
ZEIT:
Was ist die richtige Antwort auf den Erfolg der Grünen?
Schulz:
Die Grünen reduzieren sich auf ein Thema: Klimaschutz. Das ist seit Jahrzehnten auch ein
Thema der SPD, und man darf auch erwähnen, dass wir es waren, die die Energiewende
eingeleitet haben, und dass wir gerade den Kohleausstieg gegen viele Widerstände
durchsetzen! Trotzdem können wir hier vor allem beim Tempo noch ehrgeiziger auftreten. Im
neuen Europaparlament gehört das Thema bei uns ganz oben auf die Agenda! Gleichzeitig warne
ich aber davor, jetzt ausschließlich auf das Thema Klima zu setzen. Es gibt noch andere
Herausforderungen: die europäische Steuerpolitik, die Zukunft der Arbeit, die Sicherung der
internationalen Friedensordnung, das Management der Migration, die Verteidigung der
Demokratie. Die SPD ist eine Partei, die in Regierungsverantwortung die Dinge zusammendenkt,
sich nicht ein Thema rauspickt und die möglichst radikalste Lösung propagiert.
ZEIT:
Muss die SPD raus aus der Groko?
Schulz:
Man darf diese Europawahl nicht zum Maßstab der Bundestagswahl machen. Allein deshalb
nicht, weil durch den Wegfall der Fünf-Prozent-Hürde die “Sonstigen” fast 13 Prozent der
Stimmen erhielten. Bei einer Bundestagswahl kann zum Beispiel eine Grundrenten-Debatte
verfangen, die bei einer Europawahl verpufft.
ZEIT:
Wir leben in kapitalismuskritischen Zeiten, aber die Sozialdemokratie profitiert davon
nicht. Braucht die SPD mehr Kapitalismuskritik?
Schulz:
Unbedingt! Uns fehlt die Bereitschaft, uns die Kapitalisten einmal richtig vorzuknöpfen –
meinetwegen auch mal populistisch zu sein. Denken Sie an die Finanzkrise: Spekulanten machen
Milliardengewinne und zahlen dafür keine Steuern. Wenn die gleichen Leute
Milliarden-Verluste machen, muss der Steuerzahler für sie blechen. Solche Entwicklungen
treiben die Gesellschaft auseinander. Die Waffengleichheit von Kapital und Arbeit existiert
im nationalen Rahmen. Nur hat sich das Kapital internationalisiert. Die Arbeitsseite nicht.
Die Kapitalisten fahren in Europa Ferrari, der Sozialstaat mit dem Fahrrad hinterher.
Deshalb brauchen wir einen europäischen Mindestlohn, ein europäisches Streikrecht, eine
europäische Tarifkultur.
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