/Verfassung: Warum hat das Grundgesetz so viele Fans in Taiwan, Herr Lee?

Verfassung: Warum hat das Grundgesetz so viele Fans in Taiwan, Herr Lee?

ZEIT ONLINE: Herr Lee, Sie sind Taiwanese und haben Ihre Doktorarbeit über
die deutsche Verfassung geschrieben. Wieso?

Chien-Liang Lee: Als taiwanesischer Jurist bin ich ein großer Fan des deutschen
Rechts. Nicht nur weil sich unsere Verfassung und Rechtsprechung wesentlich an deutschen
Gesetzen orientiert hat.
Sondern weil der systematische Aufbau des deutschen Rechts uns geholfen hat, unsere eigenen Rechtsprinzipien zu entwickeln.

Mein akademischer Lehrer, der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident, Professor Doktor Yueh-sheng Weng war der erste Taiwanese, der in Deutschland promoviert hat, in Heidelberg. Er hat das öffentliche
Recht in Taiwan mit dem deutschen Verfassungsrecht verglichen. Er
ist mein Vorbild. Schon für meine Magisterarbeit in Taiwan habe ich dann mit
deutscher Literatur gearbeitet, weil ich wegen des Themas meiner Magisterarbeit
nicht auf chinesische Literatur zurückgreifen konnte. Außerdem ging Taiwan
damals im Bezug auf die Rechtsordnung ja schon seinen eigenen Weg. Und so lag
es nahe, dass ich für meine Doktorarbeit auch nach Deutschland gehe.

ZEIT ONLINE: Jetzt feiert das deutsche Grundgesetz seinen 70. Geburtstag. Nicht nur
Taiwan, auch Spanien, Tschechien oder Südkorea haben sich an der deutschen
Verfassung orientiert
. Wieso?

Lee: Ich denke, es geht nicht um die Worte auf dem Papier, sondern darum, dass
das deutsche Verfassungsgericht den Grundrechten durch seine Entscheidungen
immer wieder neues Leben einflößt. Das Verfassungsgericht hat viele Grundsatzentscheidungen gefällt,
die auch für die Rechtsordnung und Rechtsauslegung in unserem Land interessant
sind.

ZEIT ONLINE: Welches ist Ihr liebster Artikel aus dem deutschen Grundgesetz?

Lee: “Die Würde des Menschen ist unantastbar.” So ein kurzer, wichtiger
Satz, denn man kann so viele Rechtsprinzipien daraus ableiten. An diesem
Grundrecht kann man sich immer orientieren, wenn man keine andere Norm für ein
Problem findet. Auch in Taiwan wenden wir Juristen den Grundsatz der
Menschenwürde an, er steht aber nicht explizit in der Verfassung – wenn wir Normen also am Prinzip der Menschenwürde messen, dann
haben wir uns ohne Zweifel an Deutschland orientiert.

ZEIT ONLINE: Und welches Prinzip des Grundgesetzes passt nicht zu Taiwan?

Lee: Vielleicht der Föderalismus und die im Grundgesetz
festgeschriebene Aufgabenverteilung zwischen Bund und Ländern. Taiwan ist immer
ein Zentralstaat gewesen. Das Grundgesetz definiert die Länder ja als kleine
Staaten mit vielen Rechten – dieser Gedanke ist uns etwa fremd.

ZEIT ONLINE: Warum war eigentlich das deutsche Recht so wichtig für Taiwan –
und nicht das britische oder amerikanische?

Lee: Das hat historische Gründe. Im 19. Jahrhundert hatte Japan Taiwan besetzt. Die Japaner hatten schon damals viele Aspekte des deutschen Rechts in ihre
eigene Rechtsordnung aufgenommen. Das Zivilrecht, Strafrecht und auch
Verwaltungsrecht, die gesamte Grundstruktur der japanischen Kaiserzeit stammt
aus Deutschland. Und so wurde es über Japan nach Taiwan übertragen.

1945 exportierte auch China, das zum Teil von deutschem Recht beeinflusst war, seine modernisierten Rechtsprinzipien nach Taiwan. So wurde das Recht in Taiwan weitgehend vom
deutschen Recht beeinflusst. Als wir in Taiwan dann unsere Demokratie
entwickelt haben, war es logisch, dass wir uns weiter an deutschem Recht zu orientieren.
Außerdem sind geschriebene Normen natürlich besser als Vorbild für das
Formulieren einer neuen Rechtsordnung. Das britische Recht dagegen ist Common
Law, also nicht festgeschrieben. Da gibt es wenig Schriftliches und
wenig wohlgeordnete Rechtsdogmatik, an der man sich orientieren kann.

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