Die Wähler der Grünen bilden eine anwachsende, dann plötzlich aber auch
wieder schrumpfende geistige Provinz, die mehr öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zieht als
andere politische Unterstützungszonen. Gelegentlich tut das grüne Milieu, als könne es
Zusammenhänge genauer erkennen als andere, mehr noch, als sei auch seine Lebenspraxis eine
bessere, beispielsweise wenn es daran erinnert, dass ein Leben mit Lastenfahrrädern das einzig
mögliche sei.
8,9 Prozent der Wähler entschieden sich bei der letzten Bundestagswahl für die Grünen, um die 20 Prozent würden es heute tun, wenn Gelegenheit wäre. Der Europawahl kann die Partei freudig entgegensehen. Theoretisch versierte Vertreter ihres Milieus zitieren gern Antonio Gramscis Begriff der “kulturellen Hegemonie”, um die eigene gesellschaftliche Strahlkraft zu unterstreichen. Das ist wahrscheinlich übertrieben, Grünwähler setzen Trends, die im weiten Sinn mit der Nachhaltigkeitswende zu tun haben, aber vielleicht folgen sie ihnen auch nur.
Das Milieu ist demoskopisch gut durchleuchtet: Überdurchschnittlich viele Hochschul- und Fachhochschulabgänger sind darunter, mehrheitlich Frauen und Stadtbürger. Ihr Einkommen ist solide Mitte; viele sind Beamte und Angestellte, ganz viele arbeiten im öffentlichen Dienst. Westdeutschland ist grün, der hohe Norden und der tiefe Süden, vor allem der Südwesten. Die Begünstigten der bundesrepublikanischen Bildungsreformen halten der Partei die Treue, Studenten und Auszubildende kommen immer wieder hinzu, das Ganze ist ein Mehrgenerationenhaus. Grünwähler sind den Angeboten neurechter Ideologen abhold. Das unterscheidet sie von den anderen Parteimilieus.
Als sich die grüne Partei 1980 gründete, ging es außer um Atomkraft, Frieden, Umwelt um die Forderungen einer ganzen Korona sozialer Bewegungen. Es ging um ein breites Spektrum von Themen, und diese Vieldimensionalität oder Weitläufigkeit des Anfangs zieht bis heute eine gewisse Unschärfe nach sich. Parteiobere müssen seither immer wieder nachzentrieren und das Spezifische herausarbeiten. Deswegen deren unermüdliches Bestehen auf “Inhalte”. So ist der moralisierende Überschuss, den die Grünen dem Rest der Gesellschaft unter die Nase reiben, auch ein Mittel, um Fliehkräfte zu bändigen.
Rhetorik spielt im grünen Milieu eine große Rolle, die richtigen Schlagworte und Vereinfachungsmuster, Spiele mit Pflichtbewusstsein und Kindlichkeit: Die Grünen sind auch zu Virtuosen der Psychopolitik geworden. Dass dabei das Ökologische noch im Zentrum steht, ist eine Mär. Grünen Wählern geht es längst genauso um andere Dinge, um sichere Jobs, die Bildungschancen ihres Nachwuchses oder um einen zeitgerechten Lebensstil mit gutem Gewissen. So fällt das Grün auch immer blasser aus.
“Wir sind die Partei des neuen Bürgertums”, jubelte Renate Künast 2009 nach einer Kommunalwahl in Stuttgart. Mittlerweile ist das “neue Bürgertum” zahlenstark und mächtig geworden. Soziologen haben es als ein neuartiges politisches Umfeld beschrieben, das durch Überzeugungen, aber nicht durch Klasseninteresse geeint sei. Ganz so stimmt es wohl nicht mehr: Der Nachhaltigkeitsumbau schreitet voran, er benötigt Ingenieure, Informatiker, Verwalter, Pädagogen. Grünwähler sind es, die diesen Modernisierungsprozess vorantreiben. Sie profitieren von alternativen Technologien und sauberen Produktionen, von einer renovierten Lebensmittelindustrie oder veränderten Ausbildungsprofilen, von neuer Gesetzgebung und ihren Verwaltungsvorschriften.
Das macht noch kein Klassenbewusstsein, sorgt aber für ein starkes Selbsterhaltungsinteresse. Der Umbau ist inzwischen auch ökonomisch bedeutsam, was dazu führt, dass sich die Interessen auffächern, auch die grünen. Eine Unzahl von persönlichen Subzielen lagert sich über die hehren Zielsetzungen von einst. So wird es immer aufwendiger, den Zusammenhalt des Milieus per Kommunikation zu sichern. Jedenfalls verbringt die Parteiführung viel Zeit damit, darüber nachzudenken, wie sie richtig redet und zuhört. Der weltanschauliche Kern droht weich zu werden, während das Milieu sich munter differenziert.
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