Ob den Bremern bewusst ist, dass sie in einem Stadtstaat voller Widersprüche leben, wenn sie am Sonntag ihre Stimme abgeben oder auch das Wahllokal meiden? Seit 1946 regiert die SPD das kleinste Bundesland ununterbrochen. Nach fast 73 Jahren aber müssen die Sozialdemokraten fürchten, dass sie den Bürgermeisterposten erstmals in der Nachkriegszeit abgeben müssen. Denn in jüngsten Umfragen zieht die CDU davon. Auf welche Verdienste kann die massiv unter Druck geratene SPD noch verweisen, welche Versäumnisse muss sie sich im Wahlkampf zu recht vorhalten lassen?
Einerseits ist Bremen das Bundesland mit der höchsten Verschuldung pro Einwohner, der höchsten Quote an Sozialhilfeempfängern im Verhältnis zur Einwohnerzahl und der höchsten Armutsquote unter Jugendlichen. Seine Schüler landen bei Pisa-Studien regelmäßig auf dem letzten Platz, wie der Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst in einer ebenso material- wie lehrreichen Studie zur Lage vor der Wahl aufgelistet hat. Die Arbeitslosenquote von knapp zehn Prozent ist die höchste bundesweit. Von mehr als 680.000 Einwohnern beziehen gut 100.000 Hartz IV-Leistungen.
Auf der anderen Seite ist Bremen eine wachsende Stadt. Auch die Wirtschaft am sechstgrößten deutschen Industriestandort wächst stärker als im Bundesdurchschnitt. Das Mercedes-Werk in der Stadt war das größte weltweit, bevor es von Peking abgelöst wurde. Airbus und der lokale Champion OHB setzen mit der zukunftsgerichteten Luft- und Raumfahrttechnik Milliarden um. Wesentliche Teile der ISS-Raumfahrtstation werden dort gebaut, wichtige Teile der Airbus-Flotte entwickelt, geprüft und hergestellt. Zudem hat Bremen eine mit mehr als 200 Millionen Euro staatlich und privat geförderte Privatuniversität sowie eine staatliche Hochschule, die zu den Exzellenzuniversitäten aufgestiegen ist.
SPD versagt bei der Bildung
Doch die positiven Entwicklungen lassen die negativen Zahlen nicht verschwinden: Die Gesellschaft der Stadt ist gespalten: Bei der Wirtschaftsleistung je Einwohner liegt Bremen stets auf Platz zwei hinter Hamburg. Bei den verfügbaren Einkommen rangiert das Land weit unten. Das heißt: Bei vielen Bremern kommt der Reichtum nicht an.
Erwirtschaftet wird er mit Hilfe von mehr als 130.000 Pendlern. Sie arbeiten in Bremen, wohnen aber im niedersächsischen Umland, wo sie Steuern zahlen. Die Mittelschicht wandert ab. In Bremen bleiben Reiche und Arme, die einen wohnen in wohlhabenden, die anderen in abgehängten Stadtvierteln. „Es ist leider so, dass Armut sich hier verfestigt hat“, sagt Pastor Manfred Meyer, Leiter des Diakonischen Werkes.
Es wäre unhistorisch, für diese Entwicklung allein Fehler der SPD in mehr als 70 Jahren verantwortlich zu machen. Die Krise des Schiffbaus, die Steuerreform von 1969 (Erhebung nach Wohnort statt nach Firmenstandort) und die Schuldenbremse wirkten sich katastrophal auf Bremens Finanzen aus.
Die Folgen der Sparpolitik, die den öffentlichen Dienst, Verwaltung, Kitas und Krankenhäuser traf, verärgert die Bürger bis heute. Anrechnen lassen muss sich die SPD, dass sie es nicht geschafft hat, im Bildungssystem eine Wende zum Besseren zu vollziehen: Fast 80 Prozent bescheinigen dem Senat in Umfragen hier Versagen.
Die SPD will sich die Defizite nicht zuschreiben lassen: „Die wirtschaftlichen Strukturumbrüche, die Bremen durchlitten hat, das Werftensterben, die Krise der Stahlindustrie, der Unterhaltungselektronik und des Frischfischfangs haben herzlich wenig mit einer SPD-Regierung zu tun“, sagt Landeschefin Sascha Karolin Aulepp. In der Folge sei die Arbeitslosigkeit und damit auch die Armut massiv gestiegen. Doch dass Mercedes nach Bremen geholt wurde, das Land wieder sechstgrößter Industriestandort ist und die „überaus erfolgreiche Universität“ eng mit der Wirtschaft zusammenarbeite, sei „durchaus Folge unserer Politik“. Ob das die Bremer überzeugt hat, wird am Sonntag um 18 Uhr feststehen.
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