/Jean Ziegler: “Die Leute leben hier wie Tiere”

Jean Ziegler: “Die Leute leben hier wie Tiere”

Der Schweizer Jean Ziegler ist einer der bekanntesten Globalisierungskritiker. Im Interview spricht er über seine Erlebnisse im Hotspot Moria in Griechenland, das als Auffanglager für Migranten an der europäischen Außengrenze gilt.

ZEIT ONLINE: Herr Ziegler, warum
sind Sie ins Flüchtlingslager Moria auf die griechische Insel Lesbos gereist?

Jean Ziegler: Ich bin hier als Vizepräsident
des Expertenausschusses, der den UN-Menschenrechtsrat berät. Dieser gehört zu
den wichtigsten Instanzen der Vereinten Nationen, er überprüft die
Menschenrechtspolitik der 193 Mitgliedsstaaten. Auf Lesbos bereite ich eine
Resolution über die sogenannten Hotspots vor; jene Lager, in denen die
Europäische Union Flüchtlinge festhält und einem schnellen Asylverfahren
unterzieht.

ZEIT ONLINE: Welche Situation
haben Sie in Moria vorgefunden?

Ziegler: Eine fürchterliche. Ganz
fürchterlich! Das Lager liegt in einer früheren Kaserne und ist mit 5.000 Menschen
schrecklich überfüllt. Deshalb gibt es rundherum in den Olivenhainen
inoffizielle Camps. Familien aus Syrien oder Afghanistan haben sich dort notdürftige
Schutzkonstruktionen aus Ästen und Plastik zusammengeschustert. Mitten in
Europa leben sie in Hütten, wie man sie aus Bangladesh oder den Slums von Honduras
kennt. 35 Prozent der Bewohner sind Kinder unter 10 Jahren.

ZEIT ONLINE: Welche Folgen hat die Bedrängnis
im Lager?

Ziegler: Hier müssen sich 100
Personen eine Dusche und eine Toilette teilen. Die ist oft verstopft, verdreckt,
Fäkalien liegen herum. Es gibt kein warmes Wasser, keine Schulen und ganze zwei
Ärzte – für 5.000 Menschen! Das Essen, das Catering-Firmen im Auftrag der
Regierung liefern, ist oft ungenießbar. Auch die Sicherheit ist nicht gewährleistet,
obwohl griechische Polizisten vor Ort sind. Viele Frauen trauen sich nachts
nicht, auf die Toilette zu gehen, weil es Vergewaltigungen gab. Mit all dem
habe ich erst den physischen Zustand beschrieben. Das psychische Elend kommt
noch hinzu.

ZEIT ONLINE: Was haben Sie darüber
erfahren?

Ziegler: Die Menschen hier haben
ja oft schreckliche Erlebnisse hinter sich. Bombardierungen, Folter, Schiffsunglücke
auf dem Mittelmeer. Nun sitzen sie hier wie im Gefängnis, umgeben von Stacheldraht, und wissen nicht, was auf sie
zukommen wird. Ich habe mit einem jungen Afghanen gesprochen, der mit seiner
Familie seit Februar auf Lesbos lebt. Seinen ersten Termin bei der
Asylprüfungsbehörde hat man ihm für den 14. Juni 2020 in Aussicht gestellt. Man
verzögert die Verfahren, und dabei sind es nicht die griechischen Richter, die
die eigentliche Macht über das Schicksal dieser Menschen ausüben.

ZEIT ONLINE: Wer sonst?

Ziegler: Die Erstbefragung erstellen Beamte des European Asylum Support Office, kurz EASO. Das dauert pro Person oft nur 15 Minuten, nach Computervorgabe, tak tak tak. Aber wie soll jemand, der traumatisiert ist, in so kurzer Zeit über Erfahrungen wie Folter, Vergewaltigungen oder Verfolgung berichten? Um darüber sprechen zu können, braucht es Zeit, dazu muss sich ein persönlicher Kontakt entwickeln. Wenn man diesen Menschen nicht die Möglichkeit gibt, sich zu erklären, dann sind die Dossiers, auf deren Grundlage die griechischen Behörden und Gerichte urteilen, auf Rückweisung programmiert.

ZEIT ONLINE: Das EASO darf nicht selbst entscheiden, das tun die nationalen Behörden.

Ziegler: Aber die Erstbefragung prägt das Verfahren. Das universelle Menschenrecht auf Asyl wird durch verwaltungstechnische Schliche ausgehebelt. Schon 2017 haben sich die Anwälte der Nichtregierungsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) bei der europäischen Bürgerbeauftragten beschwert, mit all den Vorwürfen, die auch ich erhebe. In ihrer Antwort schrieb die Ombudsfrau der EU, dass das Vorgehen der EASO zu schweren Bedenken Anlass gebe – dennoch wurde die Klage abgewiesen und die Untersuchung eingestellt.

ZEIT ONLINE: Wer zurückgeschickt werden soll, kann aber immer noch Berufung einlegen?

Ziegler: Natürlich, Griechenland ist ein Rechtsstaat. Aber die Richter tagen in Athen. Sie bekommen die Asylbewerber gar nicht zu sehen. Ich spreche Nichtregierungsorganisationen wie Pro Asyl oder Medico International meine Bewunderung aus, die gemeinsam mit griechischen jungen Anwälten und Anwältinnen die Einsprüche in Athen dennoch durchzusetzen versuchen. Sie leisten Sisyphusarbeit.

ZEIT ONLINE: Die EU macht die griechische Regierung für all diese
Zustände verantwortlich. Sie bekomme Milliardensummen, dennoch funktioniere weder
die Versorgung noch der Verwaltungsablauf. Sehen Sie das auch so?

Ziegler: Offenbar verschwinden
Millionen Gelder, die für die Ernährung der Flüchtlinge vorgesehen sind, und überall
fehlt organisatorische Effizienz. Ein Beispiel: Der Flüchtlingskommissar der
Vereinten Nationen kann Notzelte zur Verfügung stellen. Die griechische
Regierung hat sie aber nicht angefordert, sodass die Leute weiter in ihren
Plastikunterkünften
hausen müssen. Das versteht keiner hier. Womöglich steht aber
auch hinter solchen Entscheidungen europäischer Druck. Die Betonköpfe in
Brüssel hoffen, dass schreckliche Bilder aus den Lagern die Menschen aufhalten.
Das ist nicht nur unmenschlich, sondern auch unrealistisch.

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