Alle Fäden, an denen die große Koalition noch hängt, sind aus feinster
Seide, es braucht nicht viel, und es ist vorbei. Etwa ein Europawahl-Ergebnis, bei dem die
Union unter 30 Prozent liegt und die SPD unter 16.
Dennoch muss man vorsichtig sein mit Prognosen, weil man dafür Regeln braucht; die meisten
Regeln der alten bundesdeutschen Politik gelten jedoch nicht mehr. Woran liegt das? Vielleicht
daran, dass die Gravitation der beiden entvölkerten Volksparteien so geschwunden ist. Und was
bleibt von den Regeln der politischen Physik ohne Schwerkraft? Vielleicht liegt es aber auch
daran, dass Frauen doch etwas anders sind.
Knapp gesagt, sieht die Situation der Koalition vor der Europawahl so aus: Eine will raus,
eine muss ran, und eine soll weg. Anders ausgedrückt: Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer, Andrea Nahles.
Beginnen wir mit der Kanzlerin. Die erste Regel, die sie nicht beachtet, lautet: Politiker
wollen so lange an der Macht bleiben wie möglich. Nein, das will sie nicht mehr. Und zwar
deswegen nicht, weil auch Regel zwei außer Kraft ist, die da lautet, dass sich Kanzler in
ihrer Spätphase weniger für die “Niederungen” der Innenpolitik interessieren als für die
“große Bühne” der Außenpolitik. Allerdings sind die Möglichkeiten der Kanzlerin international
noch beschränkter als daheim. Mit wenig Übertreibung könnte man sagen, dass Deutschland
zurzeit gar keine Außenpolitik hat, dass die Ruder der Kanzlerin nicht mehr bis ins stürmische
Wasser reichen und dass das “internationale Parkett” gerade vom mächtigsten Mann der Welt zu
Brennholz verarbeitet wird.
Merkel will also wohl eher raus. Nur wie? Hier bricht sie die dritte Regel. Nach der wollen
Politiker den Zeitpunkt ihres Abgangs selbst bestimmen. Politikerinnen vielleicht weniger,
weil sie nicht ganz so arg von Macht, Ehre und Eitelkeit getrieben sind. Jedenfalls möchte
Angela Merkel nicht aus dem Amt scheiden, nur weil sie aus dem Amt scheiden möchte, also aus
egoistischen Gründen, sondern weil es, nun ja, staatspolitisch geboten ist. Den Anlass dafür
kann sie also nicht selbst herbeiführen, sie muss warten. Zum Beispiel auf Annegret Kramp-Karrenbauer.
Deren Lage ist, kurz gesagt, gruselig. Nach ihrem Triumph auf dem Dezember-Parteitag der CDU
tat sie eines nicht: triumphieren. Auch so ein Regelverstoß: Statt ihren Sieg auszukosten oder
auch nur anzuwenden, versuchte AKK alles, um die unterlegene, männerdominierte Merz-Fraktion
zu integrieren. Die Folge war, dass ihr Profil unscharf wurde, während die beiden Männer, die
verdeckt mit ihr um die Kanzlerkandidatur ringen, also Friedrich Merz und Armin Laschet, nur
darauf warten müssen, dass sich die drohenden Niederlagen der CDU bei der Europawahl und bei
den ostdeutschen Wahlen im Herbst in Schlappen für die Vorsitzende verwandeln. Die mächtigste
Kraft, die es in der Politik gibt, arbeitet nun gegen AKK: die Zeit.
Was aber tut sie dagegen? Seit sie die Führung der CDU von Angela Merkel übernommen hat,
arbeitet AKK daran, Autorität zu gewinnen. Sehr weit gekommen ist sie damit nicht. Das liegt
auch daran, dass Merkel noch immer das Kanzleramt besetzt. Sie, nicht die neue CDU-Chefin,
bleibt die wichtigste Figur, Merkel wirft immer noch ihren Schatten auf AKK. Das ist keine
Absicht, es ist bloß das Dilemma der Konstellation. Der halbe Machttransfer schwächt
beide.
Nach der Europawahl steht AKK vor einem Paradox. Wenn es eine glimpfliche Niederlage wird,
kann sie daraus keinen Schwung ziehen, bei einer derben Schlappe hingegen kann sie sagen: Die
Konstellation war schuld, die mit Merkel oder die mit der SPD. Dann – aber auch nur dann –
könnte AKK recht ungehindert ihren Führungsanspruch erheben.
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