Wahlkämpfe
sind keine politikwissenschaftlichen Hauptseminare und auch keine politischen
Strategieveranstaltungen, nicht einmal verständigungsorientierte
Deliberationen. Sie sind eher Kämpfe um Aufmerksamkeit, und ihre
Erfolgsbedingung besteht darin, eine zeitlich exakt fixierte Wahlentscheidung
wahrscheinlicher zu machen. Es geht dabei sehr wohl auch um politische Inhalte
und Programme, die es vor allem dann leichter haben, wenn sie gut eingeführte
Konflikte oder Differenzen abbilden können – die Stabilität der alten Bundesrepublik
rührte auch daher, dass Sozialdemokratie und Union je komplementäre Sätze zu
fast allem sagen konnten.
Diese Konstellation ist inzwischen erheblich
schwieriger geworden. Nicht weil die Differenzen verschwunden sind, sondern
weil man nicht mehr genau weiß, um welche Differenz letztlich gestritten wird.
Ein gut institutionalisiertes Konfliktsystem lebt geradezu von der Wiederholung,
und man kann sich darin gut einrichten – das gilt vom gepflegten klassischen Ehekonflikt
über das erwähnte Parteiensystem bis hin zur bipolaren Weltordnung des Kalten Krieges. Das alles ist vorbei und macht Wahlkämpfe ebenso schwieriger
wie die geostrategischen Konflikte auf der Welt, und komplexere Beziehungskonstellationen
stehen dem in nichts nach.
Bei
Europawahlen ist es noch nie gelungen, wirklich institutionalisierte
Konfliktlinien zu etablieren. Außer vielleicht bei der Beantwortung einer Frage: ob man eher für oder
gegen Europa sei. Immerhin das musste bei Europawahlen verhandelt
werden. Es verlieh der Sache eine gewisse Ironie, die nur noch dadurch
gesteigert werden konnte, dass noch einmal auch Ihrer Majestät Vereinigtes Königreich
an der Europawahl teilnehmen muss und womöglich die Gegner dieser Wahl dabei
reüssieren.
Man kann sich dennoch des Eindrucks nicht erwehren, dass der Europawahlkampf diesmal besonders
inhaltsleer ist. Die Plakatsemantik ist auswechselbar, auf der Seite der
Sozialdemokraten herrscht vor allem gut inszenierte gute Laune, auf der
konservativen Seite weiß man gar nicht so genau, was man konservieren soll, und
die kitschige Blümchenästhetik der Grünen macht einen ganz blümerant. Wo es
keine Inhalte gibt, gibt es offensichtlich auch keine Differenzen. Zumindest
keine, über die man streiten könnte. Nicht dass hinter all diesen misslungenen
Formen nicht ernsthafte Überlegungen stehen. Aber wenn man nicht ganz genau hinsieht, will nicht recht deutlich
werden, welche eigentlich.
Die Inhaltsleere ist der Inhalt selbst
Vielleicht
sollte man die Inhaltsleere wirklich ernst nehmen. Und nach der Logik hinter ihr suchen. Die SPD slogant mit
dem schönen Satz “Europa ist die Antwort”, und genau genommen gilt der Satz für
alle politischen Wettbewerber im aktuellen EU-Wahlkampf. Das Problem von “Europa ist die Antwort” ist wohl schon die Frage, die man dann stellen muss: Worauf eigentlich?
Da verweist man auf
die Kriegsgeschichte der europäischen Völker, auf die Frage der ökonomischen
Potenz angesichts der Konkurrenz in Amerika und vor allem Asien, auf
geostrategische Überlegungen, auf währungspolitische Fragen, auf die
Durchsetzung von Rechten und so weiter. Übrigens ist die EU auch für ihre Gegner die Lösung, einen semantischen Anker zu
finden für das, was sie als Missstände schlechthin verstehen und bezeichnen: Autonomieverlust, Überfremdung, Hyperbürokratie …
Der
inhaltsleere Wahlkampf hat also am Ende nur die inhaltliche Dimension pro oder
contra Europa. Ansonsten scheint Europa eine Art Lösungsspeicher für beliebige Probleme zu sein. Man
könnte nun diskutieren: Für welche Probleme? Antwort: für alle. Also für
alle, die im Wahlkampf vorkommen.
Was ist Europa denn nicht?
Wenn die Antwort immer dieselbe ist, nämlich Europa,
liegt eine andere Frage nahe: Wovon kann man Europa eigentlich unterscheiden?
Wenn es so naheliegt und unter Weglassen aller
inhaltlichen Qualifizierung möglich ist, Europa für die Lösung zu halten, läuft
letztlich die andere Seite einer Unterscheidung unsichtbar mit. Was ist die
andere Seite Europas? Sicher nicht Asien. Oder Amerika. Oder die Welt.
Wovon sich “Europa” unterscheidet, ist die
Nation oder der Nationalstaat. Das Paradoxe an Europa ist nämlich, dass es
letztlich ein Reentry der Nation beziehungsweise der Nationen ist, was selbst im Hinblick
auf die Überwindung des Nationalen am Ende doch aufs Nationale verweist.
Es
geht in diesem inhaltsleeren Wahlkampf offensichtlich nicht um politische
Lösungen für Probleme und Herausforderungen in Europa, also im Geltungsbereich
der Europäischen Union. Es geht um die Geltung des Geltungsbereichs selbst,
also um Europa, das in der politischen Semantik die Konzentration auf den
angesichts der Größe der Probleme viel zu kleinen Nationalstaat (so heißt es
stets) wettmachen soll. Und obwohl tatsächlich die Entscheidungsebene der EU eine operativ außerordentlich wichtige und vor allem wirksame ist, will es nicht gelingen, die politische Arbeit des zu wählenden
Parlaments selbst jenseits der aus nationalen Wahlkämpfen und politischen
Konfliktlinien bekannten Gegnerschaften zu führen. Operative Politik und ihre
Lösungen scheinen kaum darstellbar zu sein. Darum gerinnt Europa
selbst zur Lösung.
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