/Ministerium für Mitgefühl: Hier wurde der Kapitalismus in die Welt gesetzt

Ministerium für Mitgefühl: Hier wurde der Kapitalismus in die Welt gesetzt

Das Ministerium für Mitgefühl ist ein im November 2018 gegründetes Kollektiv von Autorinnen und Künstlerinnen, das sich gegen die Verrohung der Sprache und gegen soziale Kälte einsetzt. In der folgenden Unterhaltung geht es um die Geschichte Europas. Wie kann man Europa, diese geraubte Königstochter, in eine Figur des Humanismus verwandeln, ohne sich dabei als Weltenretterin aufzuspielen?

Die Ministerin fragt: Wer zum Teufel ist Europa überhaupt? Europa, die erste Migrantin? Eine arabisch-libanesisch-syrisch-assyrisch-levantinisch-babylonisch-phönizisch-mesopotamisch-semitisch-minoisch-griechische Königstochter? Eine Kolonisierte oder eine Kolonisatorin? Eine Schönheit im Wasserzeichen einer Währung? Eine Frau, die von einem Gott – oder war es ein Stier? – verführt wird?

Europa sagt: Vergiss die Verführung, das war ein Missbrauch.

Die Ministerin sagt: Die Gemälde, die diese Szene zeigen, heißen im Englischen The Rape of Europe. Deutsche Maler nennen ihre Bilder lieber Raub der Europa. Das ist eine Errungenschaft. Dass die Vergewaltigung heute auch “Vergewaltigung” heißt. Europa, eine ausgeweidete Puppe, die dem Mann Gestalt verleiht.

Europa fragt: Wird mein Körper zu seiner Maske? Zu einem Mann, der im Namen der Geschändeten Lieder über den Humanismus singt?

Die Ministerin sagt: Die Gewalt im Inneren war immer schon da. Nur tut man alles, um sie zu verschleiern.

Europa fragt: Bestand mein Körper immer aus dieser inneren Mitte? Oder hatte ich mal Ränder? Und wie viele Ränder gibt es noch? 

Ministerium für Mitgefühl: Die Ministerinnen für Mitgefühl sind ein Kollektiv von Autorinnen und Künstlerinnen, das emphatischen Widerstand leistet gegen soziale Kälte und die Verrohung der Sprache. Gegründet wurde es im Herbst 2018 im Rahmen der von Nazi & Goldmund ins Leben gerufenen Konferenz "Ängst is now a Weltanschauung" am Ballhaus Ost Berlin. Die Ministerin sagt: "Empathy is the weakest muscle in a human body" (Etgar Keret). Also müssen wir diesen Muskel trainieren.

Die Ministerinnen für Mitgefühl sind ein Kollektiv von Autorinnen und
Künstlerinnen, das emphatischen Widerstand leistet gegen soziale Kälte
und die Verrohung der Sprache. Gegründet wurde es im Herbst 2018 im
Rahmen der von Nazi & Goldmund ins Leben gerufenen Konferenz “Ängst is
now a Weltanschauung” am Ballhaus Ost Berlin. Die Ministerin sagt:
“Empathy is the weakest muscle in a human body” (Etgar Keret). Also
müssen wir diesen Muskel trainieren.

© Alexander Bartsch & Jan-Luca Ott

Die Ministerin sagt: Europa, das ist das unaufhörliche Kreisen um eine leere Mitte, die sich mit Reichtum zu füllen versucht. Ein Kontinent, der Ideale proklamiert, aber diese Ideale Tag für Tag verrät. Eine Friedensmacht, die in allen Teilen der Erde Unfrieden sät.

Die Ministerin sagt: Der innere Frieden im Westen basiert auf Gewalt, die anderswo geschieht. Der westliche Wohlstand ist ohne die Kolonie nicht zu denken. Das in der Karibik angehäufte Geld finanziert im England des 18. Jahrhunderts die aufkommende bürgerliche Kultur. Kolonialbarone fördern Kunst. Kolonialbarone lieben Kunst. Ihnen verdanken wir unsere gediegenen, geschmackvollen, gehobenen Kaffeehäuser. Unsere Theaterhäuser. Opernhäuser. Literaturhäuser. Das lässt sich wie Kaffeesatz lesen: Die Plantage war ein rechtsfreier Raum, in dem die schlimmsten Grausamkeiten geschahen. Ein Raum ohne Gefühle, ohne Verantwortung, ohne Fürsorge, ohne Sympathie, ohne Mitleid. Und wer erzählt diese Geschichte als Aufstiegsgeschichte? Als Geschichte einer demokratischen DNA? Was für eine Kraftanstrengung. Dieses Narrativ aufrechtzuerhalten.

Europa fragt: Wie konnte ich mir selbst nur so abhandenkommen?

Die Ministerin sagt: Als die Kolonialkriege ihren Höhepunkt erreichten, war in Europa die Menschlichkeit auf dem Vormarsch. Die Plantage, die Kolonie und die sogenannte Zivilisation sind untrennbar verbunden. Die Plantagen, auf denen man Zucker anbaute. Dieses weiße Gold, eigens raffiniert. Feinstaub oder Puderzucker. Kokain oder Mehl. Um Brot zu backen. Brot für die Welt.

Die Ministerin sagt: Es geht nicht um weiße Schuld. Es geht um den Schmerz schwarzer Körper.

Europa sagt: Ja, aber wo sollen wir nur mit den ganzen Geflüchteten hin?

Die Ministerin sagt: Wir sind hier, weil Ihr dort gewesen seid.

Europa sagt: Das Wort “Asyl” klingt nach einer fremden Welt, die mit mir nichts zu tun hat. Dabei ist Zuflucht ein Hoffnungswort. Es drückt aus, was jeder Mensch braucht.

Die Ministerin fragt: Warum dürfen Waren und Kapital frei zirkulieren, während man für Menschen Mauern hochzieht? Warum verhängt die EU Sanktionen, wenn ein Staat sich verschuldet, nicht aber, wenn er gegen Menschenrechte verstößt?

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