/Kevin Kühnert: Der Mythos der sozialen Marktwirtschaft

Kevin Kühnert: Der Mythos der sozialen Marktwirtschaft

Nachdem Kevin Kühnert kürzlich seine Vorstellungen eines “demokratischen Sozialismus” darlegte, hatten viele seiner Kritiker schnell zwei historische Gegenargumente parat, durch die manche Kernforderungen des Juso-Vorsitzenden, bessere Verteilungsgerechtigkeit und mehr Wirtschaftsdemokratie, unter den Tisch fielen. Doch womöglich ließe sich die von Kühnert angestoßene Debatte gerade anhand dieser Einwände nicht nur weiter, sondern auch grundsätzlicher führen.

Das erste Gegenargument lautete: Wer die unsichtbare Hand des Marktes, die Wohlstand, Innovation und individuelle Freiheit garantiere, durch die sichtbare Pranke des Staates ersetzen will, der handele geschichtsvergessen. Dies führe nämlich nicht nur in Plan- und Mangelwirtschaft à la DDR, sondern ruiniere auch den bürgerlichen Rechtsstaat. Gemäß dem Motto: Wo dynamisch-schöpferisches Unternehmertum ist, soll gängelnd-unproduktive Verwaltung werden.  

Das zweite, oft damit verbundene Argument hieß: Gerade Deutschland habe mit seinem wirtschaftshistorisch gewachsenen Konsens der “sozialen Marktwirtschaft” ja bereits seit Langem Kapital und Arbeit ausgesöhnt. Verfüge man im Gegensatz zu neoliberalen Überzeugungstätern wie den USA über das wohlfahrtsstaatliche Erbe Ludwig Erhards, sei die Rhetorik vom “demokratischen Sozialismus” besonders überflüssig, da die Bundesrepublik zu den besten aller sozialen Welten gehöre. Kurzum: “Wohlstand für alle.”

Der “Unternehmerstaat”

Das Problem ist allerdings: Beide Gegenargumente werfen mehr Fragen auf, als dass sie Antworten geben. Das beginnt bereits beim Begriff der “sozialen Marktwirtschaft” selbst. Denn dieser verweist heute auf nichts Konkretes mehr. Er ist zu einem leeren Signifikanten geworden, einer mythisch überfrachteten Worthülse, die von jedem politischen Lager fast beliebig gefüllt und gebraucht werden kann. Das zeigt allein die Existenz der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, jener von Arbeitgeberverbänden getragenen Lobbyorganisation, die für Unternehmerinteressen, Deregulierung und Steuersenkungen wirbt.

Es ließe sich dieser Tage auch fragen, worin das “soziale” der Marktwirtschaft überhaupt bestehe? Besieht man eine Reihe von Daten, die jüngst von Marcel Fratzscher, dem Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in einer Art Bestandsaufnahme zur sozialen Marktwirtschaft via Twitter zusammengetragen wurden, fällt die Antwort doch schwer. In kaum einem anderen Land wird Vermögen so gering besteuert; mehr als die Hälfte der privaten Vermögen kommt durch Erbschaften oder Schenkungen zustande; während die Steuern für die oberen 30 Prozent seit 1998 deutlich gesenkt wurden, stiegen sie für die unteren 50 Prozent an; rund 40 Prozent der Deutschen haben keine Ersparnisse und keine Altersvorsorge; und in kaum einer anderen Industrienation ist der Aufstieg durch Bildung so schwierig.

Ebenso wirft die Gegenüberstellung von freien, innovativen Märkten und trägen, bürokratischen Staaten Fragen auf. Und zwar nicht aus ideologischen, sondern ganz empirischen Gründen. Die behauptete Opposition zwischen Markt und Staat hält der Realität in vielerlei Hinsicht nicht Stand. Darauf hat die Ökonomin Mariana Mazzucato in ihrem 2013 erschienenem Buch Das Kapital des Staates hingewiesen und dies vor allem am Beispiel der USA verdeutlicht. Selbst in jenem Land, das spätestens seit Ronald Reagans Amtszeit zum Motor der weltweiten Neoliberalisierung avancierte, findet sich auch heute noch ein gleichermaßen aktiver wie interventionistischer “Unternehmerstaat”.

Und das Silicon Valley?

Der amerikanische Staat tritt dabei keineswegs nur als Lückenbüßer bei Marktversagen auf, stellt also dort Infrastrukturen bereit, wo für Unternehmen die Risiken zu hoch oder die Gewinnerwartungen zu niedrig sind, etwa bei der Bildung oder der Raumfahrt – er offenbart sich auch als gezielter Initiator von Innovationen und sogar ganzen Märkten. Waren bereits die ersten Eisenbahnen nicht ohne die risikoreichen wie kapitalintensiven Investitionen der Regierung zu haben, gilt das heute gleichermaßen für die Nanotechnologie, für weite Teile der Pharmaforschung oder das Internet, welches ja nicht nur von der Defense Advanced Research Projects Agency (Darpa), einer Behörde des US-Verteidigungsministeriums, erfunden, sondern anfangs sogar auch noch kommerzialisiert wurde.

Auch das Silicon Valley, gemeinhin mythischer Inbegriff des kreativ-schöpferischen Privatunternehmertums, ist nicht ohne massive staatliche Unterstützung denkbar. Nicht nur in Form universitärer Grundlagenforschung, staatlicher Aufträge und üblicher Steuervergünstigungen und Subventionen, von denen allein Elon Musks Tesla-Unternehmen bis 2015 rund fünf Milliarden Dollar erhielt. Ebenso durch industriepolitische Investitionen und Partnerschaften, allen voran in Gestalt der National Science Foundation (NSF). Wurde etwa Googles PageRank-Algorithmus, dem das Unternehmen seinen Aufstieg verdankte, mit dem Geld der NSF entwickelt, so bekam Apple anfangs nicht nur Unterstützung durch staatliche Fördermittel, sondern profitierte auch maßgeblich vom Zugang zu Technologien aus zivilen wie militärischen Forschungsprogrammen. Mazzucato konstatiert in ihrem Buch pointiert: “Tatsächlich steckt im iPhone nicht eine einzige Technologie, die nicht staatlich finanziert wurde.”

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