/Grundgesetz : Keine Demokraten weit und breit

Grundgesetz : Keine Demokraten weit und breit

70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall: Wir wollen die großen historischen Jubiläen dieses Jahres als etwas Zusammenhängendes betrachten. Deshalb starten wir die Serie “Deutschland 70/30”. In diesem Artikel analysiert Christian Bommarius die Stimmung in Westdeutschland 1949. Zur Stimmung damals im Osten lesen Sie die Analyse von Julius Betschka.

Im Juli 1949 – das Grundgesetz war erst wenige Wochen alt – sagte Thomas Mann den Wiederaufstieg des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik voraus. Nach 16 Jahren im amerikanischen Exil hatte sich der Literaturpreisträger sich zu einer Deutschland-Reise überreden lassen. Aber schon vor seiner Abfahrt hatte er das Gefühl, in den Krieg zu ziehen.

In seinem Exil in Pacific Palisades hatten ihn bereits zahlreiche Beleidigungen als Volks- und Vaterlandsverräter erreicht. Als er nun 1949 Zürich erreichte, kamen noch Morddrohungen aus Deutschland hinzu. Sodass er und seine Frau vom ersten Augenblick ihres Eintreffens in Frankfurt am Main an unter Polizeischutz standen.

Aber Thomas Manns Auftritt in Frankfurt wurde ein Triumph: Sein Empfang durch Frankfurts Oberbürgermeister Walter Kolb und einer Gruppe Kriminalbeamter am Hauptbahnhof, seine Fahrt zum Gästehaus der Stadt in Schönberg im Taunus in Begleitung einer Polizeieskorte, der Empfang des Goethe-Preises, seine umjubelte Rede in der schwer bewachten Paulskirche. Auch das Schlussbankett im Gästehaus war stimmungsvoll. Nachdem sich das Ehepaar Mann zurückgezogen hatte, endete es allerdings mit einem Besäufnis der zurückgebliebenen Honoratioren, die Nazilieder grölten.

Manns Resümee war vernichtend

Obwohl Mann mit Freude an die Feier in der Paulskirche zurückdachte, an die Menschen, die anschließend ein Spalier gebildet und “Auf Wiedersehen!” und “Dableiben!” gerufen hatten, fiel sein Urteil über die Westdeutschen nicht erfreulich aus. In seinem Bericht, mit dem er bereits auf der Rückreise begann, klagte er: “Von den Schandtaten des Nazi-Regimes wollen sie nichts hören und wissen, sie erklären sie für propagandistische Lügen und Übertreibungen, legen ostentative Gleichgültigkeit an den Tag gegen Prozesse, die diese Gräuel zum Gegenstande haben.”

Manns Resümee war vernichtend: “Der deutsche Anspruch auf bevorzugendes Mitleid, besondere Rücksichtnahme und Fürsorge ist von unerschütterlicher Arroganz, und eine vertrackte Welt-Konstellation macht ihn sehr weitgehend erfolgreich.”

Mit anderen Worten: Nicht die Einsicht der Westdeutschen, großes Unrecht begangen zu haben, beförderte die Rückkehr Westdeutschlands in die zivilisierte Welt. Sondern der Kalte Krieg. Die Eindrücke seiner Deutschland-Reise bestätigten nicht nur Manns Skepsis, ob die Rückkehr tatsächlich stattfinden werde, er war sich danach sogar sicher, dass es aussichtslos sei, auf sie zu hoffen: “Die Entwicklung geht rapide in Richtung der Renazifikation, unter anglo-amerikanischem Schutz und Schirm, und meinen Besuch, scheint es, habe ich in the very last minute gemacht.”

Mit diesem Urteil stand Mann 1949 keineswegs allein. Im Sommer dieses Jahres, in dem zum zweiten Mal in der Geschichte auf deutschem Boden eine Demokratie entstand, hatte die US-Militärregierung amerikanische Zeitungskorrespondenten in die Besatzungszone geschickt. Ihr Auftrag war es, das politische Bewusstsein der jungen Demokraten zu erkunden. Zu ihnen gehörte Russell Jones, einer der begabtesten US-Journalisten seiner Generation mit langer Deutschland-Erfahrung. Er sollte die Frage klären: Wer und was wird demnächst das Vakuum füllen, das die Nationalsozialisten hinterlassen haben?

Jones beantwortete sie so: “Am stärksten spricht jede Partei durch den militanten Nationalismus an, und alle müssen ihn bieten, wenn sie politisch konkurrenzfähig bleiben wollen.” Alle Siegermächte – also auch die Sowjetunion – hätten in ihrem Kampf um Deutschland den Parteien gestattet, dieses Lockmittel unbegrenzt anzuwenden. Wenn die Besatzungsmächte sich irgendwann zurückziehen, werde “sich der Deckel auftun” und das “wahre Feuerwerk” beginnen: ” Der Schrei nach ‘Lebensraum’ wird wieder laut werden, man wird die alten Schlagwörter abstauben, und das Volk wird seinen neuen ‘Führer’ mit ‘Heil’ begrüßen.”

Sitzengeblieben – auf dem Stand von 1945

Das war keine erfreuliche Prognose, aber sie war typisch für diese Zeit. Die westdeutsche Bevölkerung nahm das Grundgesetz und die neuen demokratischen Institutionen nicht mit Jubelrufen, sondern eher apathisch zur Kenntnis. 40 Prozent sagen laut einer Umfrage, die neue Verfassung sei ihnen gleichgültig, 33 Prozent erklären, sie hätten mäßiges Interesse daran.

Der US-Journalist Jones hielt auch aufgrund solcher Umfragen die Entnazifizierungsbemühungen der Siegermächte für komplett gescheitert: “Die deutsche Geisteshaltung, die es möglich gemacht hat, dass die Hitler’sche ‘Weltanschauung’ überhaupt Eingang fand und aufgenommen wurde, existiert noch, und nach der Meinung der meisten von uns, die wir dabei waren, stehen wir genau da, wo wir im Jahre 1945 begonnen haben.”

Entsprechend düster war Jones’ Fazit: “Ist einmal die Zusammenarbeit mit der Besatzung nicht mehr notwendig, dann wird ein wahrhaft dynamischer Führer von der Art, wie die Deutschen sie immer geliebt haben, auf den Plan treten, um Deutschland zu seiner verlorenen Größe zurückzuführen und seinen verlorenen Ruhm zu erneuern.” Wer dieser Mann sein werde, könne niemand sagen. “Aber er wird nicht weit kommen, wenn er an Demokratie glaubt.” Jones erteilte den Deutschen miserable Zensuren: Sie waren sitzengeblieben – auf dem Stand vom 8. Mai 1945.

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