70 Jahre Grundgesetz, 30 Jahre Mauerfall: Wir wollen die historischen Jubiläen dieses Jahres als etwas Zusammenhängendes
betrachten. Deshalb starten wir die Serie “Deutschland 70/30”. In diesem Artikel analysiert Julius Betschka die Stimmung in Ostdeutschland 1949. Zur Stimmung damals im Westen lesen Sie die Analyse von Christian Bommarius.
Als das Grundgesetz am 24. Mai 1949 in Kraft trat, wurde die westdeutsche Besatzungszone zu einem neuen Staat: zur Bundesrepublik Deutschland. Im Osten waren viele damit nicht einverstanden, aber an diesem Tag entschlossen sich die Offiziellen, das Ereignis zu ignorieren.
Im sowjetischen Sektor erscheint an diesem Dienstag, wie an jedem Werktag, die Zeitung Neues Deutschland, sie kostet 15 Pfennig. Ein Artikel auf der Titelseite widmet sich dem Stahlwerk im sächsischen Riesa, in dem gerade der fünfte 100-Tonnen-Ofen gefertigt wird. Die Angestellten werden für ihre Arbeit gelobt. Und aus dem thüringischen Meiningen wird berichtet, dass die 2.000. Lokomotive repariert wurde.
Die Zeitung der Sozialistischen Einheitspartei (SED) bemüht sich um Normalität, um die Rhetorik des Wiederaufbaus. Zum Grundgesetz findet sich an diesem Tag nichts. Das ist interessant, weil das Blatt, wie die gesamte SED-Spitze, in den Vormonaten gegen das Streben nach einem westdeutschen Staat opponiert hatte. Das Grundgesetz? Aus Sicht der SED ein Dokument der Spaltung.
Man muss sich das Jahr 1949 als eine Zeit des Übergangs und der Zerrissenheit vorstellen. Deutschland ist nach dem Zweiten Weltkrieg in vier Besatzungszonen aufgeteilt: die Westmächte Frankreich, Großbritannien und die Vereinigten Staaten teilen den Westen unter sich auf, die Sowjetunion besetzt den Osten zwischen Geisa und Görlitz. In beiden Sektoren, Ost und West, gibt es Bestrebungen, einen Staat zu bilden. Lange ist unklar: Wird es ein Deutschland geben oder zwei? Wird es ein sozialistischer Staat oder eine demokratische Republik? Es ist eine Art Wettlauf. Und es besteht wenig Einigkeit über das Ziel.
Ein Festakt, der vielen egal war
Am Abend des 23. Mai 1949 werden Tatsachen geschaffen. In den Westsektoren tritt das Grundgesetz in Kraft, das die Gründung der Bundesrepublik Deutschland bedeutet. Die Teilung Deutschlands ist beschlossen. In Bonn unterschreiben die Mitglieder des Parlamentarischen Rates. Es ist ein Festakt.
Doch den meisten Deutschen ist nicht nach Jubeln, ob in Ost oder in West. Das Land ist nicht frei von Nazis und Demokratie lernen die Menschen erst langsam. Die Entnazifizierung wird eher murrend ertragen als begeistert aufgenommen.
Was die Menschen im Ostteil des Landes über diese Entwicklung denken, ist schwierig zu erfassen. Die Presse ist nicht frei, sondern gelenkt von den sowjetischen Besatzern und der SED. Die Parteizeitung Neues Deutschland ist mit einer Auflage von 400.000 die größte im sowjetischen Sektor. Der SED-Parteiführung gilt das Grundgesetz als Dokument, das “nicht nur die deutsche Nation, sondern auch die Demokratie preisgeben” werde, so formuliert es Otto Grotewohl, später erster Ministerpräsident der DDR, in einer Rede vor dem Deutschen Volksrat im Mai 1949.
Fast wöchentlich redet Grotewohl gegen das Grundgesetz und die Gründung eines Weststaates an: Er warf den westlichen Militärgouverneuren vor, den
Parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz verabschiedete, “zur
Schaffung eines Separatstaates zu vergewaltigen”, so zitiert ihn das Neue Deutschland damals.
Westdeutsche Politiker wie der spätere Bundeskanzler Konrad Adenauer
(CDU) gelten den Sozialisten als “Spaltungspolitiker”. Die Annahme des Grundgesetzes gefährde die Einheit Deutschlands und die Zukunft des deutschen Volkes. Stattdessen fordert Grotewohl gemeinsame Verhandlungen deutscher Politiker für einen einheitlichen Staat. Aus Sicht der SED soll das ein sozialistischer sein – ein Arbeiter- und Bauernstaat.
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