Bald ist wieder Pfingsten und der Kirchgänger feiert das Herabkommen des Heiligen Geistes. Neben Jesus und Gott immerhin die dritte wesentliche Instanz, an die der Christ früher einmal glaubte. Heute fällt auch dem Christ das Glauben schwer.
Ein Grund könnte sein, so brüllen jedenfalls Kulturpessimisten, dass die Welt so irre komplex geworden ist. Und ein gutes Beispiel dafür, wie viel vielschichtiger, vertrackter und einfach schwieriger zu verstehen sie ist, zeigt der Homecoming der
amerikanischen Sängerin Beyoncé. Die 2 Stunden und 17 Minuten lange Doku des immerhin allergrößten Popstars des Planeten ist nicht einfach ein grandioses und ergreifendes Konzert, dessen Entstehung und Aufführung man auf Netflix beiwohnen darf, sondern zugleich auch eine Entschuldigung dafür, dass sie es gespielt hat.
Im Verlauf des Films entschuldigt sich der Star bei ihren Zwillingen, die ja gerade erst geboren waren, bei ihren Fans und vor allem bei sich selbst. “Das würde ich mir nicht noch einmal antun. Das war zu viel.” Zu viel Entbehrung, zu viel Hungern, zu viel Training. Der Fan soll also die Show genießen, aber auch Absolution erteilen. Er soll seine Heldin und ihren aufopferungsvollen Kampf wertschätzen.
Queen B ist die erste afroamerikanische Sängerin, die 2018 als Headlinerin beim legendären kalifornischen Festival Coachella auftrat. Daraus ist auch die Doku Homecoming entstanden. Sie feierte dort mit brachialer Bühnenshow, 200 Tänzerinnen und Tänzern, eigener Blaskapelle, ihrem Mann Jay-Z, ihrer Schwester Solange und Destiny’s Child eine kraftstrotzende Zeichenkunde afroamerikanischer Kultur und sie feierte das schwächste Glied der Gesellschaft, das sie in diesen über zwei Stunden extrem stark rüberkommen lässt: die schwarze Frau. Dem glühenden Empowerment auf der Bühne werden in der dazugehörigen Doku durch Schnittfolgen immer wieder Gesichter aus der ersten Reihe gegenübergestellt. Dort jubeln junge Menschen vor schönem Schmerz und grandioser Ekstase verzerrt und verzückt, schreiend, weinend, ausrastend, einfach weil sie permanent merken: Sie stehen hier im Angesicht der Göttin, der Größten. Sie ist DA. Immer wieder kommt sie die Treppen der riesigen Bühnenpyramide runtergewandelt, vom Himmel her.
Für Bey war das aber wie gesagt alles nicht so einfach. Wer ihr während der Strapazen jedoch permanent zur Seite stand, war Gott der Vater. Immer wieder werden sie und ihre Crew beim Beten gezeigt. Als Christ und Christin hat man es dieser Tage am allerschwersten. Vor ein paar Wochen stand die berühmteste Kirche der Welt in Flammen. In
Sri Lanka und Nordamerika werden immer mehr Gotteshäuser zu Zielen von
Terroranschlägen.
Doch nun macht sich zum Glück Kanye West auf, in einem
eigenen sonntäglichen VIP-Gottesdienst des Herren
Wort groß und schön zu verkünden. Als Höhepunkt einer Serie privater Konzerte, konnte die Welt am Ostersonntag zum ersten Mal in ganz großem Rahmen daran teilnehmen, wiederum bei besagtem Coachella-Musikfestival. Dazu muss man sagen: Kanye geht’s nicht so gut. Der Rapper und Produzent, der seit über 15 Jahren als einer der genialsten Ausnahmekünstler seines Faches gilt, hatte zuletzt eine richtig miese Phase. Er outete sich als geisteskrank, liebkoste vor laufenden Kameras mit roter Maga-Mütze Donald Trump und sagte dann noch so ungefähr, dass die Sklaven die Sklaverei ja irgendwie auch genau so gewollt hatten. Seine Anhängerschaft war verstört, viele wandten sich ab. Das Vertrauen war hin.
Kanye wirkte zuletzt wie ein vom Weg Abgekommener, den seine Familie immer wieder einsammeln muss. Seine Familie ist ja die berühmteste der Welt, die Kardashians. Eine Mutter und sehr viele Töchter. Und das hatte West ja auch Trump erzählt: Die sind alle so weiblich, deswegen suche er Trumps männliche Energie. Aber von all dem wollen wir jetzt nicht mehr sprechen. Wests Frau, Kim Kardashian, twitterte am 6. Januar, dem ersten Sonntag dieses Jahres, ihren sechzig Millionen Anhängern, dass nun der Sunday Service losginge. Seitdem sind ihre Instagram Stories der Leitkanal dieser fantastischen wöchentlichen Performance, die auf so viele Arten unsere Sehnsüchte und die Widersprüche zeitgenössischen Lebens ausdrücken.
Die ultraexklusiven Events finden an wechselnden Orten, öfters aber in der Nachbarschaft des Rappers, auf den sonnenbestrahlten grünen Hügeln Calabasas statt. West spielt dort eigene wenige Hits und Neuinterpretationen von R’n’B- und Gospel-Klassikern. Begleitet wird er von einem fast unheimlich magischen Gospelchor und berühmten Supertrommlern, die allesamt in monochrome, oft sand- oder naturfarbene Kollektionen von West gekleidet scheinen und dabei aussehen und sich verhalten wie eine neue, extrem stylische Sekte von Earthlingen. Die Kinder wuseln umher, Tanzkreisel wie um den Lebensbaum auf dem Monte Verità, das Publikum umfasst höchstens zweihundert handverlesene Menschen, die sich drum herum drapieren und mitklatschen. Neben den Kardashians selbst waren bisher zum Beispiel Tyler, the Creator, Katy Perry, Rick Rubin, David Letterman, Courtney Love und Orlando Bloom da, der Rapperkollege DMX hielt mal eine Predigt.
Beim Schauen wird man immer so ein bisschen verrückt, weil einfach unklar ist, was das eigentlich sein soll: ein privates Soul-Konzert, flashiger Kirchgang, spirituelle Reinwaschung, Pop-up-Fashion-Event, Land Art, Familienfeier oder VIP-Brunch? Ein Umsonst-und-Draußen-Festival, zu dem natürlich weiß Gott nicht jeder kommen darf. Das Internet weiß, dass die glücklichen Teilnehmer bevor es losgeht ein mehrseitiges Dekret unterschreiben müssen, dass sie über das Gesehene zu Schweigen haben. Wie im sagenumwobenen Berliner Techno-Club
Berghain darf man auch beim Sunday Service keine Fotos und Videos machen und schon gar nicht posten. Und wie das Berghain als ein Tempel gilt, in dem durch Tanzen und Drogen und dabei nicht fotografiert werden quasireligiöse Momente entstehen, scheinen sie das auch hier. Nun mögen Zyniker in all dem einen genialen PR- und Marketing-Stunt sehen von einem, der im absoluten Größenwahn nach der eigenen Fashion-Linie, die ja eben Yeezy heißt, und einem Album, das Yeezus hieß, nun eben eine neue Kirche baut. Dass alles läuft vielleicht auch einfach nur auf das immer wieder verschobene neunte Album dieses Himmelsstürmers hinaus. Wer das so sieht, übersieht aber vieles.
Hits: 5