Es könnte ein gemütliches Wochenende werden für Vincenzo Varrese: ein paar
Zigaretten auf dem Balkon, einen Pilzrisotto zum Abendessen. Stattdessen steht ihm und seinen
Freunden eine 40-stündige Carfahrt bevor: 20 Stunden hin, 20 Stunden zurück.
Dietikon–Kalabrien retour.
Vom 23. bis 26. Mai 2019 wählt die Europäische Union ihr neues Parlament. Auch 1,7 Millionen EU-Bürger, die in der Schweiz leben, sind wahlberechtigt. Die meisten von ihnen können brieflich abstimmen. Nicht aber die Griechen, Slowaken und die Italiener: Sie müssen in ihre Heimatgemeinde reisen und den Stimmzettel persönlich in die Urne legen.
“Das ist eben
Italia”,
sagt Vincenzo Varrese. Wenn er lacht, sieht man die breite Lücke zwischen seinen Schneidezähnen. Warum nimmt er die Strapazen dieser langen Wahlfahrt auf sich? Varrese fährt sich mit beiden Händen durchs graue Haar: “Ich muss das tun”, sagt er in gebrochenem Schweizerdeutsch, hält inne, sucht nach den richtigen Worten: “Wir Europäer sollten wieder zusammenhalten.
Capisci?
Miteinander statt gegeneinander.”
Varrese ist Präsident des Kulturvereins Realtà Nuova in Dietikon. Das Clublokal liegt im Dachgeschoss eines Reinigungsinstitutes. Zwei ältere Männer trinken Kaffee, ein paar Mitdreißiger unterhalten sich über einen italienischen Abgeordneten, an den Wänden hängen Dartscheiben, und auf den Balken reihen sich die Pokale. Varrese weiß bald nicht mehr, wohin mit den goldenen Bechern: Die Vereinsmitglieder gewinnen ein Turnier nach dem anderen. Sie brennen für Dart – und für Politik.
Deshalb hat Varrese auch dieses Mal wieder einen Car organisiert, um für die Wahlen “nach unten” zu fahren. Nach unten, das ist San Pietro a Maida, ein Dörfchen, das an der Spitze des italienischen Stiefels klebt.
“Guarda qui”,
sagt Varresse und zeigt auf eine gerahmte Fotocollage: weiße Häuser, eine alte Kapelle, Olivenhaine, Windräder. San Pietro a Maida hat 4.200 Einwohner, ein Viertel davon lebt aber nicht im sonnigen Süden, sondern in der Schweiz, genauer in und um die Zürcher Gemeinde Dietikon.
47 Plätze im Car sind bereits verkauft, drei noch zu haben, für hundert Euro pro Person. Auch Varreses Neffe und Nichte fahren mit, eigene Kinder hat er keine. Seine Passagiere sind in einer Excel-Tabelle sauber aufgeführt, die Jüngste 18, der Älteste 72 Jahre alt, er kennt jeden Einzelnen. “Die meisten wählen die italienische SP, den Partito Democratico.” Einer der Männer schaut Varrese von der Seite an und schüttelt langsam den kahl rasierten Kopf. Varrese klopft ihm auf den breiten Rücken: “Francesco werde ich während der Fahrt noch umstimmen.”
1,7 Millionen
europäische Wahlberechtigte
leben in der Schweiz
Die schwierigen Lebensumstände und die harte Arbeit haben Varrese politisiert und zu einem Linken gemacht. Mit 18 musste er auswandern, weil es in Kalabrien keine Jobs gab. Seit bald vierzig Jahren arbeitet er für Schweizer Unternehmen, heute als Maschinenführer in einer Stahlsägerei in Schlieren. Er hat Sehnsucht nach seiner Heimat, möchte sich mit 63 frühpensionieren lassen und zurück in sein Dorf ziehen.
Als junger Mann wählte Varrese die Kommunisten, “weil sie sich für Leute wie mich einsetzten, die viel arbeiten und wenig verdienen”. Zudem war die KP die Antwort auf den Rechtsextremismus in Italien. Im Vereinslokal hängen noch heute ein paar Wimpel mit Hammer und Sichel und eine Schwarz-Weiß-Fotografie des Antifaschisten Antonio Gramsci. Später ging der Partito Comunista d’Italia im Partito Democratico auf. Nun geht Varreses Stimme an ihn.
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