Die
Wilhelminenhofstraße in Berlin-Oberschöneweide an einem gewöhnlichen Montagmorgen.
Die Fassaden der Gründerzeithäuser auf der Nordseite sind saniert, in den Läden
überwiegt Secondhand, ob in Form von Möbeln, Trödel oder Büchern. An der
Südseite erstrecken sich Industriehallen mit gelben Backsteinfassaden und
vertikalen Fensterbändern. Kein Rauchen, kein Fauchen, kein Puffen, kein
Kreischen, nicht mal ein Brummen liegt über der Straße, nur die Geräusche von Autos,
Mopeds, Trams sind zu hören. Wenige Menschen laufen die Straße entlang.
Der
Rhythmus der Schichtzeiten, der das Viertel über ein Jahrhundert geprägt hat,
ist seit den Neunzigerjahren passé. 30.000 Menschen haben zu Hochzeiten in
“Elektropolis” gearbeitet, wie die Betriebe der Elektroindustrie, die sich wie
ein Band kilometerlang die Spree entlangzogen, noch heute genannt werden. TRO,
KWO, WSSB oder WF sagten die Leute, wenn sie gefragt wurden, in welchem Werk
sie einen Teil ihrer Lebenszeit verbrachten.
“Die
meisten Arbeiter fahren mit der Straßenbahn die Wilhelminenhofstraße herunter
zum TRO. Das TRO liegt an der zweiten Haltestelle. Der Betrieb heißt VEB
Transformatorenwerk K. Liebknecht. Er stellt Transformatoren her, die nach
Ägypten, in die Türkei, nach der SU und in andere Länder geliefert werden. Ich
arbeite in den Vorwerkstätten, in der Abteilung MW1.”
So schrieb es der Dichter
Thomas Brasch, 1969 zur Bewährung in der Produktion ins TRO verwiesen, nachdem er
zu zwei Jahren und drei Monaten Freiheitsentzug wegen staatsfeindlicher Hetze im
Zusammenhang mit dem Einmarsch der Warschauer-Vertrags-Staaten in die
Tschechoslowakei verurteilt, aber nach zwei Monaten im Gefängnis mit Auflagen entlassen
worden war. Wer etwas über die schwere Arbeit in der DDR-Industrie wissen will,
über Zwölf-Stunden-Schichten, schlechte Arbeitsbedingungen, Unzufriedenheit, Träume
von einem anderen Leben, Sex in den Werkhallen, Tod auf dem Arbeitsweg und über
Arbeiterinnen, für die Geschichte nichts weiter als “ein harter, kalter Wind
ins Gesicht ist”, der lese Thomas Braschs Tagebücher.
Die
Vorwerkstätten, wo Brasch arbeitete, waren gleich hinter dem Pförtnerhäuschen
an der Reinbeckstraße, in dem das Café Schoeneweile nun Mitte-Getränke und
selbst gebackenen Kuchen anbietet. Die ehemaligen Produktionsstätten heißen heute
Reinbeckhallen. Thomas Brasch hätte sich ganz sicher nicht träumen lassen, dass
ein Porträt von ihm genau 50 Jahre später an seinem Arbeitsplatz hängen würde,
der nun, frisch renoviert und mit hellen Oberlichtern ausgestattet, eine
Ausstellungshalle ist, in der im Moment die Fotoausstellung Die Ostdeutschen
zu sehen ist von Roger Melis, einem der wichtigsten Fotografen Deutschlands.
Die Schwarz-Weiß-Aufnahme zeigt Thomas Brasch drei Jahre nach seinem unfreiwilligen
Ausflug in den real existierenden Arbeitersozialismus als Lyriker und
Dramatiker mit sanften Augen, einem verwegenen Schnauzbart und langen Haaren,
in die Ecke eines Ledersofas gelümmelt. Einer von mehreren Protagonisten des Ausstellungskapitels
13: Schriftsteller. Wer es schaffte, von Roger Melis fotografiert zu werden,
gehörte zu den Auserwählten.
Auch
eine andere Schriftstellerin kannte sich aus in den Fabrikhallen von
Oberschweineöde, wie die Ostberliner sagten. Ende der Fünfzigerjahre hatte man
Helga M. Novak nach ihrer Rückkehr aus Island mit strengen Meldeauflagen und
Arbeitsplatzbindung in das Werk für Fernsehelektronik verfrachtet, eine
Straßenbahnhaltestelle vom TRO entfernt. Sie arbeitete in einem Frauenbetrieb
am Band. In ihrem letzten Roman Im Schwanenhals (2013) heißt es: “Die Frauen
aus meiner Brigade haben mich widerstandsfähiger gemacht. Durch sie bin ich
endgültig schwer erziehbar geworden.” Novak ist Teil des berühmten Gruppenbildes Biermann mit Freunden, gern übersehen zwischen dem Meister, Sarah Kirsch und
Robert Havemann. Auch das hängt in der Ausstellung.
Roger
Melis, Jahrgang 1940, der im Haushalt des Dichters Peter Huchel aufwuchs, lernte
nach der Schulzeit das Fotografenhandwerk und arbeitete bis 1968 als wissenschaftlicher
Fotograf in der Charité, ehe er sich als freier Porträt- und Modefotograf einen
Namen machte. Melis musste nie gefällig sein oder Aufträge übernehmen, die er
nicht wollte. Als Modefotograf für die Zeitschrift Sibylle konnte er seinen
Lebensunterhalt sichern, nebenbei streifte er durch die Stadt, ähnlich einem
interesselosen Spaziergänger, dessen Blick verweilt. Nur dass da eben immer
eine Kamera war, die sowohl die verfallenen Straßen und Höfe der Ostberliner
Innenstadt festhielt als auch das neu entstehende Plattenbauviertel Marzahn am
östlichen Ende der Halbstadt. Bilder aus der Arbeitswelt entstanden sowohl für
Zeitungsreportagen als auch auf Streifzügen. Es gibt Porträtaufnahmen von Menschen aus allen
Schichten, ob nun Kellner, Schlosser, Bäuerinnen oder bildende
Künstler. Melis hat die Ränder von Militärdemonstrationen fotografiert,
Rummelplätze mit Halbstarken, Kneipen. Nichts an den Fotos ist inszeniert.
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