Am Anfang meines Berufslebens bekam ich das Angebot, Assistent in der
Geschäftsführung einer gemeinnützigen Einrichtung zu werden. Die Vorstellung, viel zu bewegen
und Ideen einzubringen, war verlockend. Rasch aber erwies sich der vermeintlich freundliche
Chef als cholerisch und manipulativ. Einzelne Mitarbeiter wurden umschmeichelt, andere vor
versammelter Mannschaft herabgesetzt und lächerlich gemacht. Ich konnte nicht anders, als mich
zu schämen. Für ihn – und für mich: Denn trotz meiner Empörung schwieg ich. Auch die anderen
Kollegen schauten weg. Niemand zeigte sich solidarisch mit den Angegriffenen, Beschimpften.
Keiner wagte zu protestieren. Nach drei Wochen ergriff ich die Flucht.
Jahre später wurde ich zum Ombudsmann einer internationalen Organisation bestellt. Als unparteiische Schiedsperson schlichtete ich nun Konflikte und ging Fällen von Mobbing nach. Mit meinem Amtsantritt kamen die vergessenen – um nicht zu sagen verdrängten – peinlichen Erinnerungen unvermittelt wieder hoch. Meine Erfahrungen von damals helfen mir noch heute, die Psychodynamik am Arbeitsplatz zwischen Opfer und Angreifer, zwischen Gemobbten und der mobbenden Gruppe, besser zu verstehen. Im Rückblick betrachtet, ging es immer um Stress infolge schlechter Führung und fehlender Kollegialität. Der Übergang von gesundem zu neurotischem bis zu pathologischem Verhalten von Menschen und Organisationen verläuft fließend und lässt sich nur schwer ändern. Im Laufe von drei Jahrzehnten bin ich als Coach und Berater überzeugt: Inkompetente Führung stresst, vergiftet das Arbeitsklima und ist eine Ursache für Mobbing.
In Zeiten radikalen Wandels ist die Fähigkeit, Druck auf der individuellen, gruppendynamischen und organisatorischen Ebene zu steuern, von existenzieller Bedeutung. Eustress (also guter, positiver Stress) beflügelt, macht gute Laune und treibt zu Höchstleistung an. Negativer Stress raubt den Schlaf, setzt die Leistungskraft herab und macht langfristig krank. Menschen erkranken am Arbeitsplatz, wenn die Balance zwischen fremder Anforderung und eigener Ressource gestört ist. Dauert die Überbeanspruchung lange, droht sie im Burn-out zu enden. Die Gefahren sind hoch bei sensiblen Personen mit Helfersyndrom, die sich nicht abgrenzen können, bei Idealisten, die an der Realität scheitern, bei Perfektionisten mit überhöhten Ansprüchen an sich selbst und bei Personen, die sich über die Arbeit definieren, in ihr aufgehen – und zuletzt an ihr zugrunde gehen.
Das humanistische Weltbild ist eine Wunschvorstellung
Burn-out und Mobbing entwickeln sich nicht über Nacht. Es dauert Monate, bis ein Kollege am Ende keine Leistung mehr erbringen kann und aus dem Arbeitsleben ausscheidet. Es dauert lange, bis eine Person an Kollegen und Vorgesetzten derart verzweifelt, dass sie erkrankt. Körperlich und psychisch auszubrennen ist nicht Folge von Mimosenhaftigkeit oder mangelnder Willensstärke. Burn-out und Mobbing entstehen dort, wo Führung und Kollegen kollektiv versagen.
Hobbes’ Annahme “Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf” und Goethes Standpunkt “Edel sei der Mensch, hilfreich und gut” offenbaren die Höhen und Abgründe menschlichen Seins. Zum besseren Verständnis, wozu der Mensch fähig ist, genügt es, die reale Welt am Arbeitsplatz psychologisch unter die Lupe zu nehmen.
Das humanistische Menschenbild, mit dem sich Unternehmen gern schmücken, erweist sich bei näherer Betrachtung nicht selten als Wunschvorstellung. Das Arbeitsleben ist auch geprägt von Angst, Neid und Misstrauen. Mit zunehmender Erfahrung wachsen meine Zweifel daran, dass der Mensch im digitalen Zeitalter tatsächlich nach persönlichem Wachstum strebt. Die Idee, jeder und jede wolle sich verwirklichen, dürste nach Fortbildung, strebe Autonomie an und sei offen für Veränderungen, ist ein Irrglaube. Tatsache ist, dass viele Mitarbeiter keine Karriere anstreben und viele Manager nicht gewillt sind, die eigene Komfortzone zu verlassen. Es ist eine Illusion, zu glauben, jeder Betriebsangehörige wolle Bestleistung erbringen. Im Gegenteil: Viele fürchten sich vor Wandel, Volatilität und Agilität. Sie wünschen sich: klare Verantwortlichkeiten, geregelte Arbeitsprozesse und ein stabiles Einkommen. Gerade in Zeiten radikalen Wandels und technologischer Umwälzung erweist sich der Wunsch nach Kontinuität und Solidarität zunehmend als frommer Wunsch. Und je größer die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfüllung, desto größer der Stress.
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