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Cannes : Löwendiebe und Ehrenpalmen

Glamour hin, Glamour her, so ein Job als Festivalleiter kann
wirklich nerven. Statt sich der Champagnerlaune hinzugeben, muss Thierry Frémaux, kaum dass die Festspiele eröffnet sind, auf allen Kanälen erklären,
wie in Herrgottsnamen er und sein Kollege Pierre Lescure auf die Idee gekommen
sind, Alain Delon mit einer Ehrenpalme für sein Lebenswerk zu ehren. Weil dieser
vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren des letzten Jahrtausends ein wirklich
toller Schauspieler war. Und weil Jean-Paul Belmondo auch schon eine bekommen
hat.

Das hätte bis vor wenigen Jahren als Begründung noch
ausgereicht. Wir haben aber 2019, Jahr sechs nach der gesetzlichen Regelung von
Adoptionen durch gleichgeschlechtliche Paare in Frankreich und Jahr 1,5 nach
#MeToo. Da sollte man selbst in Cannes nicht ernsthaft hoffen, unkommentiert
einen Schauspieler ehren zu können, dem es zwar “völlig schnuppe” ist, ob Schwule heiraten, der aber ihre Sexualität für “widernatürlich” hält und nicht will, dass sie Kinder adoptieren. Und der auch schon mal erwähnt hat, dass er Frauen geohrfeigt hat.

Statt sich also den ersten Wettbewerbsbeiträgen zu widmen,
die sich auf völlig unterschiedliche Weise aber in beiden Fällen sehr intensiv
mit bedenklichen gesellschaftlichen Zuständen in Frankreich respektive
Brasilien beschäftigen (dazu später mehr), statt sich also für das politische
Kino feiern zu lassen, dass er hier angekündigt hat, muss Frémaux den Satz
sagen: “Wir geben ihm ja nicht den Friedensnobelpreis.” Was faktisch
völlig korrekt ist, aber leider auch ziemlich hilflos klingt. Jedenfalls kam inzwischen von der einflussreichen Vereinigung Women and Hollywood heftige Kritik und eine Onlinepetition hat binnen weniger Tage 19.000 Unterschriften gegen das Festival und die Verleihung gesammelt.

Realistische Geschichte aus der Pariser Banlieue

Bevor es am Sonntag zum Showdown kommt, soll aber noch Zeit
sein, einen Blick auf die erwähnten Filme zu werfen. Der französische
Filmemacher Ladj Ly hat es gleich mit seinem ersten Langfilm, Les Misérables, in den Wettbewerb
geschafft. Sein Ziel war es, eine realistische Geschichte aus jener Pariser
Banlieue zu erzählen, in der er selbst aufgewachsen ist, den Hochhausblöcken
von Montfermeil im Departement Saine-Saint-Denis. Stéphane (Damien Bonnard) ist
gerade aus Cherbourg hergezogen, um seinen Dienst in einer
Antiverbrechenseinheit anzutreten. Seine beiden neuen Kollegen Chris (Alexis
Manenti) und Gwada (Djebril Zonga) führen ihn – eher rau als kollegial – in das
Leben des Viertels ein: hier die Gang um den Schwarzafrikaner LeMaire, der sich
auf patriarchalische Weise um das Funktionieren des Alltags kümmert, dort die
Muslimbrüder, die jeden Anlass nutzen, um ihren Einfluss auf die Jugend zu festigen.
Gerade hat auch noch eine Zirkustruppe von Sinti ihre Zelte aufgeschlagen.
Dazwischen Kinder und Jugendliche, die von den drei Polizisten aus schierer
Langeweile mit sinnlosen Personenkontrollen schikaniert werden, Fußball
spielen, Drohnen fliegen lassen oder Blödsinn machen. Zum Beispiel das
Löwenbaby aus dem Zirkus klauen.

Ladj Ly lässt dem Zuschauer viel Zeit, seine Figuren
kennenzulernen. Die Banlieue ist bei ihm erst mal ein Ort, an dem viele Menschen
auf sehr unterschiedliche Weise zusammenleben. Man versucht miteinander
auszukommen, obwohl jeder wirklich genug eigene Sorgen hat und vor allem zu
wenig Perspektiven. Die vorgebliche Ruhe endet, als einem der Polizisten beim
Verhaften des jungen Löwendiebs ein beinahe tödlicher Fehler unterläuft. Als
klar wird, dass das Fehlverhalten der Polizei von einem Kind per Drohne gefilmt
wurde, eskaliert die Lage.

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