/Glyphosat: Bayers Fehlkalkulation

Glyphosat: Bayers Fehlkalkulation

Aktienanalysten und Prozessbeobachter hatten bereits damit gerechnet, dass Bayer auch seinen dritten Prozess um den Unkrautvernichter Roundup in den USA verlieren würde. Die Schadenersatzsumme allerdings, die den beiden Klägern in diesem Verfahren von den Geschworenen zugesprochen wurde, war eine Überraschung: mehr als zwei Milliarden Dollar.

In einer Pressemitteilung erklärte Bayer, man sei “enttäuscht” über das Urteil. Das dürfte stark untertrieben sein. Der Aktienkurs eines der bis dahin wertvollsten deutschen Unternehmen ist in Folge der Urteile um über 40 Prozent eingebrochen. Der Vorstandsvorsitzende Werner Baumann muss nach einer turbulenten Hauptversammlung Ende April sogar um seinen Job fürchten.

Die Kläger in diesem jüngsten Fall waren Alva und Alberta Pilliod. Beide sind in ihren 70ern und beide leiden sie am Non-Hodgkin-Lymphom, einer Blutkrebsart. Auf ihren Grundstücken hatte das Ehepaar angeblich seit 1975 regelmäßig Roundup gesprüht. Das Mittel, dessen Hauptwirkstoff Glyphosat ist, habe sie beide krank gemacht, lautete ihr Vorwurf. Ursprünglich hatten die Pilliods gegen Monsanto geklagt. Doch im August vergangenen Jahres übernahm Bayer den US-Konzern für 56 Milliarden Euro – und alle anhängigen Roundup-Klagen gleich mit. Nach der letzten Zählung durch Bayer sind es inzwischen bereits 13.400.

Bayer ist erfahren in den USA

Das Bayer-Management musste sich vor allem von deutschen Anlegern schelten lassen, es habe die Risiken der Monsanto-Klagen unterschätzt. Doch Bayer ist schon sehr lange in den USA aktiv und hat Erfahrung mit dem dortigen Schadenersatz-Regime. Gerade diese Erfahrung mag es gewesen sein, die den Konzern die Gefahren unterschätzen ließ. 

Ende der Neunzigerjahre vermarktete Bayer in den USA ein Cholesterinmedikament unter den Markennamen Baycol/Lipobay. Doch 52 Patienten, die es einnahmen, starben infolge eines Nierenversagens, und Bayer zog das Medikament 2001 schließlich zurück. Über 8.000 Patienten klagten, weil sie durch die Einnahme geschädigt worden seien. Statt sich auf einen Vergleich einzulassen, ging Bayer in vielen Fällen vor Gericht.

Die Wende kam 2003, als ein Geschworenengericht in Texas im Fall eines 82-jährigen Klägers zugunsten des Unternehmens urteilte. Zuvor waren dem Mann in einem anderen Verfahren 560 Millionen Dollar an Schadenersatz zugesprochen worden. Statt insgesamt bis zu zehn Milliarden Dollar zu zahlen, wie viele Analysten erwartet hatten, einigte sich das Unternehmen zwei Jahre später mit 3.000 der Kläger auf die Zahlung von knapp einer Milliarde Dollar. Aus Sicht von Bayer war das ein Erfolg.

Doch es gibt entscheidende Unterschiede. Bei Baycol/Lipobay handelte es sich um ein Medikament, das von einem Arzt verschrieben wurde. Für die Kläger machte es das schwieriger, den Vorwurf der Fahrlässigkeit vonseiten Bayers zu erheben. Und Medikamente haben Nebenwirkungen, das müssen Patienten bis zu einem gewissen Grad in Kauf nehmen, solange das Risiko der Krankheit das der Nebenwirkungen übertrifft. Roundup dagegen ist ein Konsumgüterprodukt, frei verkäuflich an Laien. Entsprechend höher ist der Anspruch an das Unternehmen, Risiken für den Verbraucher auszuschließen oder über Gefahren aufzuklären. Hier setzten die Klagen gegen Monsanto an.

Zeitgeist gegen Glyphosat

Bayer mag auch das veränderte gesellschaftliche Umfeld unterschätzt haben. In seiner Pressemitteilung nach dem jüngsten Urteil zitiert das Unternehmen die US-Umweltbehörde EPA, die Anfang Mai erneut mitteilte, es seien keine Beweise für eine krebserregende Wirkung von Glyphosat vorhanden. Doch die Glaubwürdigkeit der EPA hat unter Präsident Trump schwer gelitten. Derzeit wird sie von Andrew Wheeler, einem ehemaligen Lobbyisten der Kohleindustrie, geführt.

In den Verfahren holten beide Seiten Experten in den Zeugenstand, die sich jeweils auf Studien beriefen, um ihren Standpunkt wissenschaftlich zu untermauern. Doch wie die wachsende Anti-Impfbewegung zeigt, ist auch das Vertrauen in Wissenschaftler und Studien erschüttert. Das lässt bei Gerichtsverfahren wie den Roundup-Prozessen viel Spielraum für Emotion – und die Klägeranwälte setzten voll darauf.

So brachten sie Roundup-Sprühflaschen mit ins Gericht, die sie aber nur mit Gummihandschuhen anfassten. Damit sprühten sie im Gerichtssaal herum (die Flaschen waren vorher geleert und mit Wasser gefüllt worden). Prominente Monsanto-Kritiker wie der Rocksänger Neil Young saßen nicht nur häufig im Zuschauerraum, sondern schrieben in einem Fall auch einen Zeitungskommentar, in dem sie an die zuständige Richterin appellierten. Bayer entging die Wirkung nicht: Die Anwälte des Unternehmens legten noch vor dem Schlussplädoyer Protest gegen die aus ihrer Sicht unzulässige Beeinflussung der Geschworenen ein. Aber es ist fraglich, wie ein Gericht überhaupt ausschließen kann, dass der Zeitgeist das Urteil der Jury beeinflusst.

Berufung kommt

Bayer muss jetzt auf eine zweite Runde hoffen. Gegen das erste Urteil, bei dem es zu 89 Millionen Dollar Schadenersatz verurteilt wurde, hat das Unternehmen bereits Berufung eingelegt. Bei den beiden jüngsten Fällen – im März fiel ein Urteil in Höhe von 80 Millionen Dollar zugunsten eines krebskranken Rentners – hat das Unternehmen die Berufung angekündigt. In der Berufungsinstanz können zwar die Beweise nicht noch einmal neu aufgerollt werden. Dafür gibt es keine Jury. Und weil der oberste Gerichtshof entschieden hat, dass zusätzliche Strafzahlungen nicht höher als neunmal so hoch wie der Schadenersatz ausfallen dürfen, werden die zwei Milliarden Dollar am Ende deutlich reduziert werden.

Doch sie dienen einem anderen Zweck: Sie sorgen für Schlagzeilen und Aufmerksamkeit. Dadurch werden mehr potenzielle Kläger auf den Fall aufmerksam. Und je mehr Klagen anhängig sind, desto größer der Druck auf Bayer, sich früh und womöglich für eine höhere Summe zu vergleichen. Das käme den Klägeranwälten zugute, die bis zu einem Drittel der Schadensumme erhalten. Die Berufungsverfahren werden voraussichtlich im Herbst beginnen. Dann wird es richtig spannend für Bayer.

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