Wolfgang Engelhorn ist eine Art Feuerwehrmann der Arbeitswelt: Wo er gerufen wird, lodert oft die Hektik. Er soll Brände löschen, bevor Mitarbeiter an Burn-out erkranken. Seit knapp 15 Jahren ist Engelhorn Businesscoach in Berlin und Hamburg, Schwerpunkt Stressmanagement. Heute reist er bundesweit in große und kleine Unternehmen, berät Manager und Angestellte, immer auf der Suche danach, was denn nun der Grund dafür ist, dass so viele innerlich heißlaufen.
Manchmal bittet Engelhorn seine Klienten, ein Stresstagebuch zu führen. “Einige wissen gar nicht so richtig, was genau ihnen an der Arbeit so zusetzt”, sagt er. Detailliert lässt Engelhorn sie dann eine Weile lang protokollieren, bei welchen Gelegenheiten welche Emotionen in ihnen aufsteigen. Die unzähligen ungelesenen Mails am Morgen? Das lange Meeting? Ein schiefer Blick des Vorgesetzten? Wo regt sich Ärger, wo Wut, Angst, Anspannung, wo Freude, Erleichterung, Spaß? Manchmal muss man sehr genau hinsehen, um den Punkt zu lokalisieren, an dem sich der Stress gefährlich zusammenbraut. “Es gibt Leute, die merken gar nicht, wie sie mit der Arbeit zugeschüttet werden”, sagt Engelhorn. Über zu wenig Arbeit kann sich der Coach selbst jedenfalls nicht beklagen. “Das Thema ist in den vergangenen Jahren deutlich präsenter geworden”, sagt Engelhorn. Die Deutschen scheinen ein gestresstes Volk zu sein.
In diesen Refrain stimmen viele ein, wenn sie über den Job sprechen: Zwei Drittel der Berufstätigen empfinden ihr Arbeitspensum als zu hoch, heißt es in der Stressstudie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016. Und in einer Befragung des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) geben regelmäßig mehr als 30 Prozent an, ihre Arbeit sei in den letzten zwölf Monaten intensiver geworden. Befragung für Befragung, überall heißt es: Die Belastung, der Druck, die Menge, die Geschwindigkeit – sie nimmt zu. Wir sind im Beruf immer gehetzter, immer geforderter. Oder täuscht der Eindruck?
Die Experten stießen auf ein Paradox
Es ist zumindest komplizierter. Das zeigt ein Blick in die Daten der Erwerbstätigenbefragung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAUA), einer groß angelegten repräsentativen Untersuchung, die genauer unterscheidet, unter welchen Bedingungen wir arbeiten – und wann wir sie wirklich als belastend erleben. Der Früher-war-alles-besser-Illusion scheinen die Ergebnisse auf den ersten Blick zu widersprechen, zum Teil recht deutlich: Die Arbeitsintensität ist in vielen Punkten in den vergangenen Jahren nicht gestiegen – teilweise ist sie sogar gefallen.
So gaben rund 60 Prozent der abhängig Beschäftigten in der letzten Befragungsrunde 2018 an, häufig verschiedene Aufgaben gleichzeitig erledigen zu müssen. 46 Prozent der Arbeitnehmer werden in ihren Aufgaben regelmäßig unterbrochen. Das mag zwar eine beträchtliche Zahl sein – aber bei den Erhebungen in den Jahren 2012 und 2006 waren die Werte ähnlich hoch. Von einem starkem Termin- und Leistungsdruck berichten dagegen inzwischen nur noch 48 Prozent, 2006 waren es 54 Prozent. Und auch der Anteil der Beschäftigten, die sehr schnell arbeiten müssen, ist gesunken – von 45 Prozent vor zwölf Jahren auf inzwischen nur noch 34 Prozent. In gewisser Weise geht es im Berufsleben heute also sogar gemächlicher vonstatten. “Ein Grund dafür dürfte sein, dass Tätigkeiten in der Produktion, die Schnelligkeit erfordern, in den letzten Jahren immer weiter automatisiert wurden”, sagt Anita Tisch, Leiterin des Bereichs “Wandel der Arbeit” bei der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.
Mehr Aufgaben, mehr Druck, mehr Hetze? Dafür sprechen diese Daten nicht. Und trotzdem stießen auch die Experten der Bundesanstalt auf ein Paradox: Obwohl die Arbeit nicht zwangsläufig intensiver und härter geworden ist, scheinen mehr Menschen als früher sie als belastend zu empfinden. Das zeigt sich zum Beispiel am Multitasking: Heute müssen nicht mehr Menschen parallel verschiedene Aufgaben erledigen als früher. Aber von denen, die multitaskingfähig sein müssen, sagen 33 Prozent, dass es sie stresst. Vor zwölf Jahren waren es nur 27 Prozent.
Wie es zu dem Paradox kommt, wissen auch die Experten nicht genau. “Wir suchen selbst noch nach der Erklärung”, sagt Anita Tisch. “Aber wir haben ein paar Vermutungen.”
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