Nachdem die Zahlen nun auf dem Tisch sind, hat der Kampf um ihre Interpretation begonnen. Ein Teil der CDU/CSU will angesichts der niedrigeren Steuereinnahmen die Unternehmen entlasten, um die Wirtschaft anzukurbeln, was dann wieder zusätzliche Steuern in die Kassen spülen soll. Ein anderer Teil argumentiert, es müsse gespart werden und deshalb gebe es kein Geld für solche Maßnahmen. Und die SPD will in der Regierung die “richtigen Prioritäten” setzen, wobei keiner genau weiß, was das bedeutet.
Die große Koalition hat also ein Thema mehr, über das sie sich streiten kann. Dabei lässt sich aus der aktuellen Steuerschätzung von Finanzminister Olaf Scholz alles ableiten, nur das nicht: Eine Aussage über die finanziellen Möglichkeiten der Bundesrepublik Deutschland. Aus drei Gründen.
Erstens: Die Steuereinnahmen steigen weiter, wegen der eingetrübten Wachstumsaussichten aber eben nicht mehr so schnell wie bei der Steuerschätzung im letzten Herbst noch prognostiziert. Ein Teil der Mindereinnahmen ist zudem bereits in den Haushaltsplänen berücksichtigt, die nach dieser Schätzung angefertigt wurden. Im kommenden Jahr fehlen dem Bund gerade einmal 1,6 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, aber nicht die Welt.
Die Schuldenbremse ließe sich umgehen
Zweitens: Der Bund ist in Deutschland nur einer von vielen staatlichen Akteuren. Es gibt die Länder, die Kommunen, die Sozialversicherung. Und denen geht es, zumindest in Teilen, finanziell gesehen vergleichsweise gut. Nach Schätzungen der Europäischen Kommission beläuft sich der gesamtstaatliche Haushaltsüberschuss in diesem Jahr auf etwa ein Prozent der Wirtschaftsleistung.
Drittens: Es steht nirgends geschrieben, dass der Staatshaushalt immer ausgeglichen sein soll. Die Schuldenquote sinkt rapide, sie wird in diesem Jahr erstmals wieder unter die Obergrenze der EU von 60 Prozent der Wirtschaftsleistung fallen. Investoren aus aller Welt würden dem Bund liebend gerne frisches Geld leihen, wie sich an den Zinsmärkten ablesen lässt. Im Moment sind die Zinsen so niedrig, dass der Staat von jedem Euro nach zehn Jahren nur etwa 90 Cent zurückzahlen müsste.
Die Schuldenbremse im Grundgesetz setzt zwar der Kreditaufnahme Grenzen. Diese lassen sich aber etwa durch die Gründung einer aus dem Haushalt ausgelagerte Investitionsgesellschaften leicht umgehen. Das erlaubt die Schuldenbremse nämlich, weil unter gewissen Voraussetzungen Investitionen nicht auf die Staatsverschuldung angerechnet werden.
Mehr Staat? Mehr Markt?
Anders gesagt: Kein politisches Projekt muss in Deutschland derzeit am Geld scheitern. Es ist genug da, um die Transformation des Energiesystems zu finanzieren, um eine echte Bildungsoffensive zu starten, um die Bundeswehr zu modernisieren oder auch um die Steuern für die Bürger deutlich zu senken.
Das bedeutet nicht, dass man alles das einfach ohne Rücksicht auf Verluste finanzieren sollte. Aber der Streit ums Geld zäumt das Pferd von hinten auf: Die politische Auseinandersetzung sollte sich darum drehen, welche Richtung dieses Land angesichts der Herausforderungen durch den Klimawandel, die aktuellen geopolitischen Umwälzungen und die drohende gesellschaftliche Spaltung einschlagen sollte. Mehr Staat? Mehr Markt? Von allem ein wenig? Oder wie lässt sich zum Beispiel sicherstellen, dass die nötigen Investitionen angesichts knapper Kapazitäten im Baugewerbe überhaupt umgesetzt werden können.
Es käme also darauf an, Konzepte zu entwickeln, Pläne zu formulieren, Strukturen zu schaffen. Das dazu benötige Geld wird sich auftreiben lassen.
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