Fußball, du schönes Spiel! Wie nur konnte man je an deiner Magie zweifeln? Fans auf dem ganzen Kontinent bekamen diese Woche leuchtende Augen: Die zwei irren Halbfinals in Liverpool und Amsterdam wühlten sie so auf, dass sie schlecht schliefen. Die Champions League ist gut und spannend wie nie zuvor.
Die beiden Spiele nahmen Verläufe, mit denen vorher kaum jemand gerechnet hatte. Nicht mal in der Halbzeit war das Ende abzusehen, das selbst die Sieger übermannte. Tränen strömten, Menschen sangen, Trainer gingen in die Knie. Gary Lineker, die englische Stürmerlegende, sprang im TV-Studio kreischend herum, als Tottenham in der 96. Minute das Siegtor schoss. Und Jürgen Klopp sagte, er habe das entscheidende Tor seiner Liverpool-Elf, eine der kuriosesten Ecken aller Zeiten, gar nicht gesehen.
Eng ging es zu. Hätte Barcelona in Liverpool im ersten Durchgang nur eine seiner großen Torchancen genutzt und hätten die Jungs von Ajax gegen die Spurs nur ein bisschen genauer gezielt, würden zwei andere Vereine am 1. Juni das Finale in Madrid bestreiten. Schon in der früheren K.-o.-Phase dieser Saison gab es 50/50-Duelle. Atlético verlor in Turin auch durch ein Tor, das nur ein paar Zentimeterchen hinter der Torlinie war. Manchester City schied gegen Tottenham aus, weil vor dem Siegtor ein Spieler minimal im Abseits stand. Paris Saint-Germain und Thomas Tuchel schieden durch einen strittigen Handelfmeter in der Nachspielzeit gegen Manchester United aus. Dramen über Dramen.
Kurze Unterbrechung der Schwärmerei: Die neue Attraktivität dieser Liga liegt natürlich an dem hochkommerziellen Wettbewerb, von dem am Ende das Produkt profitiert. Bei diesem Stichwort ist man schnell in England, also in dem Land, das die spanische Herrschaft der vergehenden Dekade im Europapokal nun beendet hat.
Spanische Ära
Die Engländer haben das meiste Geld und geben es inzwischen sinnvoll aus. Sie holen das Beste aus der Fußballwelt auf die Insel, machen es sich zu eigen, verwandeln es in ein internationales Gebilde mit starker englischer Note. Dass der Puls der Fußballfreunde auch an den Tagen danach noch schneller schlägt, hat mit der Art Fußball zu tun, den die neuen Sieger traditionell pflegen: England, das ist noch immer Überwältigung, Überrumpelung, Eskalation, Fanfarenstöße, Naturgewalt.
Englands Fußballhistorie kennt erfolgreiche Zeiten, etwa in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern oder zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vor gut zehn Jahren etwa ging es bergab. Doch ausgerechnet jetzt, wo sie die EU verlassen wollen, wenn man sie richtig interpretiert, sind sie wieder da. Lange genug haben sie den spanischen Siegen zugeschaut.
Bislang war es das Jahrzehnt der Fußballnation Spanien, die mit ihrer ausgeprägten Idee von technisch starkem Positionsspiel mit Ballbesitz in der gegnerischen Hälfte die Konkurrenz beherrschte. Sechs der letzten neun Endspiele der Europa League gewannen spanische Teams, sieben der letzten zehn Champions-League-Titel teilten sich Real Madrid und der FC Barcelona.
Nun steht der europäische Klubfußball an der Schwelle zu einer neuen Epoche, die von England mindestens mitgeprägt wird. Schon im Vorjahr erreichte Liverpool das Finale. In der aktuellen Saison wird erstmals seit 2013 nicht Spanien über Europas Fußball thronen, sondern Tottenham oder Liverpool. In der Europa League hat zwar der FC Valencia noch eine Chance, doch ist auch ein London-Finale zwischen Chelsea und Arsenal möglich. Dabei ist die beste Mannschaft der Premier League, Manchester City, längst raus.
Die Premier League dominiert den Kontinent mit Geld und Kosmopolitismus. Keine andere Liga nimmt so viele Milliarden mit TV-Rechten ein, keine andere ist so offen für fremdländisches Kapital. Für englische Klubs kicken Stars aus aller Welt, sie werden zudem von den besten Trainer angeleitet. Also keinen Engländern, sondern solchen aus Spanien, Italien, Portugal, Argentinien. Und Jürgen Klopp, Deutschlands Bestem.
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