Ein Samstag im April. In einer Sporthalle am Rande Kölns sitzen acht Männer im Kreis. “Reeeed!”, schreit einer. “Lions!”, rufen die anderen. Und dann alle: “Rooooaaaar!” Es ist das Ritual der Red Lions Leipzig. Ein Kreis, wildes Gebrüll, dann kann es losgehen. Dann rollt jeder auf seine Position und es wird gespielt. Rugby. Genauer: Rollstuhlrugby.
Es dauert nicht lange, da rumst es zum ersten Mal. Mit einem lauten Knall wird Josco Wilke von einem Gegner gerammt. Und noch mal: Rums! Ein zweiter Gegenspieler kracht ihm in die Seite, der 17-Jährige wird in die Zange genommen. Während sich vier wild fuchtelnde Arme vor seinem Gesicht auftürmen, tickt in Joscos Rücken die Shotclock. Gestartet war sie bei 40 Sekunden, mehr Zeit bleibt nicht, um das Spielgerät, einen Volleyball, fahrend über die Ziellinie zu bugsieren.
Josco scannt das Spielfeld, 28 Meter lang, 15 Meter breit, schließlich lehnt er sich nach hinten und schleudert einen Pass über das gesamte Feld. Timing und Flugbahn sind perfekt, sein Teamkollege, von einem Mitspieler freigeblockt, muss nur noch die Arme ausstrecken. Mit dem Ball im Schoß fährt er über die Ziellinie – Punkt für die Lions.
Rollstuhlrugby, das sei eine Mischung aus Autoscooter und Schach, sagt Josco. “Sehr aggressiv, aber auch sehr taktisch.” Gerade haben seine Red Lions die Agivia Sharks aus Berlin geschlagen, 57:53, damit stehen sie im Finale des 19. Bernd-Best-Turniers in Köln. Mit 236 Teilnehmern aus zwölf Nationen gilt es als größtes Rollstuhlrugbyturnier der Welt.
Als ein paar Kanadier den Sport vor rund 40 Jahren erfanden, tauften sie ihn Murderball. Harte Zusammenstöße, blockierte Fahrtwege, Schläge auf den Ball – das alles ist erlaubt. Gerade Josco, ein Leichtgewicht, aber spielstark, muss immer wieder heftige Hits einstecken. Das tue natürlich auch mal weh, sagt er. “Aber dann schüttelst du dich kurz und gut ist.” Rugby eben.
Von der Härte des Spiels zeugt auch Joscos Stuhl: Etliche Zusammenstöße haben sich auf seinem rollenden Gefährt verewigt, man könnte es fast für ausrangiert halten vor lauter Schrammen. Doch Joscos Untersatz ist, wie im Rollstuhlrugby üblich, eine teure Spezialanfertigung. Kostenpunkt: 7.000 Euro aufwärts.
Dafür erhalten die Spieler ein Vehikel, das mit einem gängigen Rolli nicht mehr viel gemein hat: einen rund 15 Kilogramm schweren Metallkoloss, aluminiumlegiert und vielfach verstärkt. Die Räder sind schief gewinkelt, erleichtern dadurch den Antrieb, und wo man normalerweise die Fußraste vorfindet, tut ein Metallrahmen gleich einer Stoßstange sein Werk. Er schützt die Athleten bei Kollisionen.
Seinen rollenden Panzer treibt Josco mit schnellen Schüben voran, ein Kraftakt für Arme und Rumpf, in Sekundenbruchteilen dreht und wendet er. Manchmal zwängt er sich durch Lücken, wo eigentlich keine sind, und wenn es Sinn macht, dann rauscht er auch mal ungebremst in einen Gegner. Rums.
Joscos größte Stärke aber ist seine Übersicht. Er ist der Jüngste in seinem Team, auch in der deutschen Nationalmannschaft, doch er liest das Spiel mit der Ruhe eines Routiniers. Im hektischen Hin und Her, dem steten Gerangel einer Partie kann das entscheidend sein. Seine gute Übersicht, sagt der Leipziger, habe er mitgenommen. “Von früher.”
Josco wollte Hockey-Profi werden. Noch vor vier Jahren träumte er von einer Karriere als Nationalspieler, von Olympia. Aber dann: Schmerzen im Brustkorb, Kribbeln in den Händen, plötzlich konnte er sich nicht mehr bewegen. Ein Rückenmarksinfarkt.
Seither sitzt Josco im Rollstuhl. Er ist Tetraplegiker, also in allen vier Extremitäten beeinträchtigt. Seine Beine sind vollständig gelähmt, die Arme streckt und beugt er, doch beim Greifen fehlt ihm Kraft. Er ist also eine 2,0.
Um zwischen den verschiedenen Behinderungsgraden mehr Chancengleichheit zu schaffen, werden Rollstuhlrugbyspieler in Klassen zwischen 0,5 und 3,5 Punkten eingeteilt. Je niedriger der Wert, desto stärker sind die Athleten gehandicapt. Insgesamt dürfen die vier Spieler eines Teams auf dem Feld auf maximal acht Zähler kommen. Außerdem gilt: Wer nicht an mindestens drei Extremitäten beeinträchtigt ist, darf am organisierten Rollstuhlrugbysport nicht teilnehmen.
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