Der Vorwurf wiegt schwer. Werden Kinder, die eine Behinderung haben, in Hamburg bei der Schulwahl benachteiligt – aus Kostengründen? Zu diesem Schluss kommt zumindest die Initiative Gute Inklusion. Sie wirft der Behörde Diskriminierung vor.
Was ist geschehen?
Im August beginnt das neue Schuljahr, die Anmelderunde ist seit Wochen vorbei, die Plätze an den Schulen sind verteilt. Nun zeigt eine Kleine Anfrage der Linke in der Bürgerschaft: Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf wurde fast sechsmal häufiger der Besuch ihrer Wunschschule verwehrt als anderen Kindern. 31 Prozent von ihnen dürfen ab August nicht die Schule ihrer Wahl besuchen. Rechnet man alle Hamburger Kinder zusammen, sind nur 5,5 Prozent von einer Ablehnung betroffen. Genauer: Von den 109 Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf, die sich für eine erste Klasse anmeldet haben, wurden 29 an eine andere Grundschule verwiesen. Und von den 125 Schülerinnen und Schülern, die auf eine weiterführende Schule wechseln, bekamen 43 ihren Erstwunsch nicht erfüllt.
Ein klarer Fall von Diskriminierung, da ist sich Pit Katzer, Sprecher von Gute Inklusion, sicher. Dies widerspreche “in skandalöser Weise” der UN-Konvention für die Rechte behinderter Menschen, findet der pensionierte Pädagoge. Die Konvention, seit 2009 in Kraft, besagt, dass kein Kind wegen eines geistigen oder körperlichen Handicaps vom Besuch einer Regelschule ausgeschlossen werden darf. Damit es nicht von der Gesellschaft isoliert wird und den bestmöglichen Schulabschluss schaffen kann.
Auch in Hamburg wird Inklusion im Schulwesen seit Jahren umgesetzt, mit einer Besonderheit: Seit 2010 können Eltern entscheiden, ob sie ihr Kind auf eine Sonderschule oder lieber auf eine Regelschule schicken. Im zweiten Fall kommen “Schwerpunktschulen” infrage. Diesen offiziellen Stempel tragen jene Schulen, die besonders integrationserfahren und personell und räumlich auf spezielle Förderbedarfe zugeschnitten sein sollen. Die Idee hinter dem Ansatz, in dem Kritiker auch eine “Inklusion light” sehen: Ressourcen sollen gebündelt, Kinder zielgerichteter betreut werden. Jede sechste der allgemeinen Schulen in Hamburg darf sich Schwerpunktschule nennen, insgesamt sind es 59.
Kein Therapieraum, kaum Ruhe: “Svea könnte häufiger epileptische Anfälle bekommen”
Pit Katzer sagt, dass er in knapp 30 Fällen direkt von betroffenen Eltern oder Lehrerinnen informiert worden sei. In allen dieser Fälle habe die Schulbehörde den Kindern einen Platz an einer anderen, näher gelegenen Schwerpunktschule zugewiesen. Dabei, und hier liegt der Kern der Kritik, seien die individuellen Entwicklungsbedingungen der Kinder nicht berücksichtigt worden.
Was das heißt, zeigt der Fall von Svea*. Die Sechsjährige geht in die Vorschulklasse einer Hamburger Schwerpunktschule und leidet unter anderem an Epilepsie. An neue Abläufe, Menschen und Gebäude gewöhnt sie sich nur langsam, sie braucht feste Routinen, die ihr Leben strukturieren. In ihrer Klasse hat sich Svea eingelebt, sie kennt alle Lehrer, kommt gut mit den anderen Kindern zurecht. Ihre Mutter nimmt sie morgens auf dem Weg zur Arbeit mit, von der Haustür bis zur Schule fährt ein Bus. Ab dem Sommer möchte Svea die erste Klasse ihrer Schule besuchen. Ihr Schulleiter hatte ihr schon einen Platz in Aussicht gestellt. Doch so wie es jetzt aussieht, wird daraus nichts mehr. Svea bekam einen Platz an der nächstgelegenen Schwerpunktschule.
Was bedeutet das für den Alltag des Mädchens? Sveas Mutter erzählt: “Abgesehen davon, dass Svea sich wieder ganz neu eingewöhnen müsste: Die jetzige Schule ist eine offene Ganztagsschule, die uns erlaubt, Svea auch schon mittags abzuholen, da sie ab dem Mittag aus gesundheitlichen Gründen unbedingt Ruhezeit benötigt. An der Schule, die uns zugewiesen wurde, ist die Anwesenheit am Nachmittag aber Pflicht. Die Wahrscheinlichkeit für epileptische Anfälle würde sich deutlich erhöhen. Nach Schulschluss um 16 Uhr hätte sie außerdem nicht mehr genug Energie für ihre Therapie. Und anders als in der jetzigen Schule werden in der neuen gar keine Therapien angeboten. Es gibt dort nicht mal einen Therapieraum.”
* Namen geändert
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