Die Zahl der Arten, die für immer von dieser Erde verschwunden sind, steigt mit erschreckender Geschwindigkeit. Verantwortlich für dieses neuerliche Massenaussterben ist die menschliche Zivilisation. Zu diesem Ergebnis kommt der Global Assessment Report, die bisher umfassendste internationale Untersuchung zum Artenschutz, den der Weltbiodiversitätsrat IPBES in Paris vorgestellt hat.
Für diese weltweite Bestandsaufnahme der Artenvielfalt haben Experten und Forscherinnen aus mehr als 50 Ländern über drei Jahre lang viele tausend wissenschaftliche Arbeiten zur Entwicklung der Biodiverstität in den vergangenen fünf Jahrzehnten ausgewertet.
Sie haben dabei fünf Faktoren indentifiziert, die die negative Entwicklung der Artenvielfalt auf der Welt maßgeblich beeinflussten: Zum einen bedrohe die Nutzung von Landflächen und Meeren die Biodiversität – drei Viertel aller Landflächen und zwei Drittel der Ozeane seien bereits entscheidend durch den Menschen verändert. Zum anderen verdrängten invasive Arten heimische Tiere und Pflanzen – die Zahl dieser invasiven Arten sei in allen Weltregionen um 70 Prozent gestiegen. Ebenso trügen eine direkte Nutzung von Pflanzen und Tieren, der Klimawandel und die Verschmutzung der Umwelt zum Artensterben bei. “Kein Ökosystem ist unbeeinflusst vom Menschen. Die intensive Landnutzung ist der größte Treiber für den sich verschlechternden Zustand der Erde”, sagte Marten Winter vom Deutschen Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung in Leipzig.
Von geschätzt acht Millionen Tier- und Pflanzenarten, die es weltweit gibt, ist dem Bericht zufolge rund eine Million vom Aussterben bedroht. In den meisten Lebensräumen auf dem Land sei die Zahl der natürlich
vorkommenden Arten um mindestens 20 Prozent sei gesunken. Mehr als 40
Prozent der Amphibienarten, fast 33 Prozent der riffbildenden Korallen
und mehr als ein Drittel aller marinen Säugetierspezies seien
bedroht. Auch bei Nutztieren schwinde die Vielfalt: Mehr als neun Prozent
der zur Nutzung als Fleischlieferant oder Arbeitstier domestizierten
Säugetierrassen seien bis 2016 ausgestorben.
Das Artensterben bedroht die Menschheit selbst
Die Autorinnen und Autoren des Berichts sehen einen eindeutigen
Zusammenhang zwischen menschlichem Einfluss und negativen Folgen für die
Natur. Diese Folgen seien in zunehmenden Ausmaß so stark spürbar, dass
sie die Menschheit selbst bedrohten. Nach Einschätzung von Teja Tscharntke, Leiter der Abteilung Agrarökologie an der Universität Göttingen, zeige der Report, “dass der Rückgang an natürlicher Vielfalt und an Leistungen durch
Ökosysteme vor allem die elf Prozent der Menschheit trifft, die unter
Nahrungsmangel leiden und so arm sind, dass sie sich die grundsätzlich
verfügbaren Lebensmittel nicht leisten können”. Den Rückgang der Biodiversität nannte Tscharntke “dramatisch und global”. Und auch Almuth Arneth, die am Institut für Meteorologie und Klimaforschung – Atmosphärische Umweltforschung in Karlsruhe forscht und als Leitautorin des aktuellen IPBES-Reports an der abschließenden Verhandlung des Weltbiodiversitätsrats in Paris teilnahm, sagte: “Die Nutzung und Übernutzung natürlicher Ressourcen durch den Menschen hat beispiellose Züge angenommen.”
Aber lässt sich der Rückgang der Artenvielfalt überhaupt noch aufhalten? Ja, schreiben die Autoren des Berichts, aber nur, wenn auf allen Ebenen unverzüglich und konsequent gegengesteuert werde. Das sei bisher nicht der Fall: “Die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt wie auch die EU-Strategie zur biologischen Vielfalt sind grandios gescheitert. Die Biodiversitätsverluste sollten schon bis zum Jahr 2010 gestoppt werden, aber selbst die Verlängerung bis 2020 hat nichts geholfen; denn das Tempo der Artenverluste ist größer denn je”, sagte Teja Tscharntke.
Wir sind “auf einem zutiefst nicht-nachhaltigen Entwicklungspfad”
Jens Jetzkowitz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Museum für Naturkunde in Berlin und einer der Leitautoren des aktuellen IPBES-Reports, sagte: Einen “Königsweg, um das Massenartensterben zu beenden”, biete der Bericht nicht. “Von Land zu Land und Region zu Region werden unterschiedliche
Maßnahmen erfolgreich sein, um die drängendsten Gefährdungen für
biologische Vielfalt und Ökosystemdienstleistungen zu beseitigen.” Es sei unverzichtbar, die biologische Vielfalt und intakte Ökosysteme “als Voraussetzungen
unseres gesellschaftlichen Lebens und Wirtschaftens” anzuerkennen. Derzeit befinde sich die Menschheit “auf einem zutiefst nicht-nachhaltigen Entwicklungspfad”.
Die Dringlichkeit eines Umschwenkens betonte auch Julian Gutt vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung im Bremerhaven, der ebenfalls als Leitautor am IPBES-Report mitgearbeitet hatte: “Die Komplexität des Zusammenlebens von Menschen mit allen anderen Lebewesen auf der Erde macht Lösungen für ein gutes Überleben noch dringender und zu einer noch größeren Herausforderung als bisher.”
Der Weltrat für Biologische Vielfalt wurde im April 2012 auf UN-Ebene gegründet. Derzeit umfasst er 132 Mitgliedstaaten. Der offizielle
Name des Gremiums lautet IPBES: Intergovernmental Science-Policy
Platform on Biodiversity and Ecosystem Services, also eine intergouvernementale Plattform zwischen Wissenschaft und Politik, die Informationen zu Biodiversität und Ökosystemen bereitstellt. Vom 29. April bis zum 6. Mai haben sich in Paris die 132 Mitgliedsstaaten des Weltbiodiversitätsrates getroffen, um das Globale Assessment zu verabschieden.
Mehr zum Artenschutz, zu bedrohten Tieren und Pflanzen, Wilderei und deren Bekämpfung lesen Sie im ZEIT-ONLINE-Schwerpunkt “Die Letzten ihrer Art”.
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