Schweizer Medizinstudenten, die hierzulande scheitern, machen in Rumänien ihr Diplom. Rumänische Ärzte wandern zu Hunderten in die Schweiz ab – auf Kosten der armen Landbevölkerung.
Bevor Teodor Serban das Stethoskop das erste Mal auf nackte Haut legt, ist
er gut gelaunt. Noch spricht aus dem Medizinstudenten im weißen Kittel die Gewissheit, hier in
Gaiceana, einem 3000-Seelen-Dorf im Osten Rumäniens, etwas bewirken zu können: “Einige der
Leute hier haben seit Jahren keinen Arzt gesehen. Wenn wir nicht gekommen wären, würde sie
niemand untersuchen”, sagt er und eilt von einem Klassenzimmer ins nächste. Als Krankenhaus
dient ihm und seinen Kollegen das notdürftig umfunktionierte Schulhaus des Dorfes. Student
Serban hilft mit Leib und Seele. Und gleichwohl zieht es auch ihn weg aus dieser Misere,
diesem Land. Eines Tages will er auswandern.
Im Flur warten bereits zwei Dutzend Männer und Frauen darauf, dass sie zum Untersuch aufgerufen werden. Die meisten haben furchige Gesichter, vielen ist die Angst vor der Diagnose anzusehen. Bis zum Abend werden die Mediziner rund 150 weitere Dorfbewohner in die Schulzimmer schleusen, untersuchen, mit dem Nötigen versorgen.
Am Vortag ist Teodor Serban zusammen mit 24 Studienkollegen und zwei Ärzten von der Universitätsstadt Iasi hierhergefahren. Drei Stunden Fahrt durch Schneegestöber, in sieben Autos, die vollgepackt waren mit Medikamenten, aufblasbaren Matratzen, Desinfektionsmitteln, Ultraschallgeräten und anderen Untersuchungsinstrumenten. Caravana cu Medici – Ärztekarawane – nennen sie sich. Die drei Teams der spendenfinanzierten Organisation reisen an Wochenenden in die abgelegenen Landstriche von Rumänien.
Hier in Gaiceana gibt es zwar einen Arzt, der ab und zu für ein paar Stunden vorbeikommt, doch wer keine Krankenversicherung hat, kann sich das nicht leisten. Und das sind viele. Die Studentinnen und Studenten der Ärztekarawane erhalten nichts für ihren Einsatz, außer Berufserfahrung und das Gefühl, das Richtige zu tun. Sie wissen: In einem Land, dem so viele Ärzte den Rücken kehren, können Routinekontrollen über Leben oder Tod entscheiden.
Seit Rumänien 2007 der EU beigetreten ist, erkennen alle Mitgliedsstaaten die Universitätsabschlüsse des Landes an. Die Schweiz dehnte die Personenfreizügigkeit ab 2009 schrittweise auf Bulgarien und Rumänien aus. Ab dem 1. Juni 2019 gilt sie uneingeschränkt.
Seit ihnen der Markt offensteht, ziehen rumänische Mediziner zu Tausenden nach Westeuropa, um dort zu arbeiten. Für bessere Bezahlung und zu besseren Bedingungen. In ihrer Heimat klafft eine immer größere Lücke in der Gesundheitsversorgung. Am meisten leiden darunter die Menschen auf dem Land. 2016 prophezeite eine rumänische Tageszeitung: “Der Ärzte-Exodus wird in weniger als 10 Jahren zum Kollaps des Gesundheitssystems führen.”
Die alternden Gesellschaften des Westens saugen die gut ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte auf wie ausgetrocknete Schwämme das Wasser. So auch die Schweiz. Ohne Arbeitskräfte aus der europäischen Union würde sie seit Jahren unter einem massiven Ärztemangel leiden. Nachwuchs aus Bukarest, Cluj oder Iasi spielt hierzulande eine immer größere Rolle. In den vergangenen fünf Jahren ließen 616 Rumänen in der Schweiz ihr Diplom anerkennen. Damit sind sie die am stärksten wachsende Gruppe der Schweizer Ärzteschaft.
Madalina Nussberger kam 2013 direkt nach dem Uni-Abschluss in die Schweiz. Heute lebt die 31-Jährige mit ihrem Mann Gion in Küttigen bei Aarau. Von ihm hat sie den Schweizer Nachnamen, von ihrer rumänischen Mutter die hohen Wangenknochen und die mandelförmigen Augen. Aufgewachsen ist sie als Madalina Rotaru in Oradea, einer Stadt in der Region Siebenbürgen nahe der ungarischen Grenze. Die Familie ist gut situiert, beide Eltern sind Ärzte und arbeiten viel. Beim Abendessen trifft sich die ganze Familie, die Eltern diskutieren am Tisch Diagnosen und wecken bei ihrer Tochter das Interesse für den menschlichen Körper. Madalina studiert Medizin in Cluj. Bei einem Skiausflug in die Karpaten lernt sie einen Basler Assistenzarzt kennen. Warum sie nicht in der Schweiz einen Job suche?, fragt er. Ihr gefällt die Idee. Nicht des Geldes wegen, wie sie betont, sondern wegen der schlechten beruflichen Aussichten in ihrer Heimat.
Trotz des Ärzte-Exodus fanden viele ihrer Bekannten nach dem Abschluss der Facharzt-Ausbildung keine Arbeit. Es ist ein offenes Geheimnis, dass in Rumänien Stellen auf Lebenszeit vergeben werden und Vetternwirtschaft weit verbreitet ist. Nussbergers Cousine, heute Oberärztin in der Radiologie, habe lange vergeblich nach einer Stelle gesucht. Schließlich fand sie eine auf dem Land, die Arbeitsbedingungen sind prekär. “Röntgenfilme muss sie von Hand entwickeln. Und das, nachdem sie die Organe der Patienten während der Ausbildung mit Computer- und Magnetresonanztomografen untersucht hat”, sagt Nussberger. Und fügt an: “Lieber auswandern, als in einem so miserabel ausgerüsteten Spital zu arbeiten.”
2013 erhält sie ihr Arztdiplom und bewirbt sich in der Schweiz. Ihr Basler Kollege hat ihr Adressen vermittelt. Im Herbst 2013 beginnt Nussberger, im Spital von Menziken zu arbeiten. An die Ankunft im lachsroten Personalhaus der Klinik denkt Madalina Nussberger noch heute gerne zurück. Nicht aber an die Zeit, die darauf folgte und sie in eine Sinnkrise stürzte. Anders als in Rumänien übernehmen Assistenzärzte in der Schweiz vom ersten Tag an viel Verantwortung, treffen Entscheide, ohne Rücksprache mit einem Oberarzt zu nehmen. Sie kannte das nicht, fühlte sich überfordert. Hinzu kam der Frust über Patienten, die sich weigerten, mit ihr Hochdeutsch zu sprechen. Dass sie seit ihrem sechsten Lebensjahr den Deutschunterricht besucht hatte, half ihr nicht. Sie verstand kein Wort. “Ich musste Pflegerinnen herbeirufen, damit sie übersetzen.”
Die Situation setzt ihr zu, sie beginnt, ihre Auswanderung zu bereuen, denkt daran, die Koffer wieder zu packen.
2018 arbeiteten 37.500 Ärzte in der Schweiz. Mehr als jeder Dritte stammt aus dem Ausland. Die Rumänen sind nach den Deutschen, Italienern, Franzosen und Österreichern auf den fünften Platz aufgestiegen.
Die Schweiz schafft es seit Jahren nicht, den eigenen Bedarf an Ärzten zu decken. Die zunehmende Spezialisierung der Ärzte, die steigende Nachfrage der überalterten Gesellschaft, der Trend zur Teilzeitarbeit im Gesundheitssektor – Erklärungsansätze gibt es viele. Klar ist, es fehlt vor allem an Hausärzten und anderen Generalisten wie Allgemeinmedizinern, Geriatern und Kinderärzten.
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