Wenn von Europa die Rede ist, darf der Krieg nicht fehlen. Ohne die
Erinnerung an die Ruinen kommt auch dieser Wahlkampf nicht aus. Ein Plakat der CDU zeigt den
Berliner Reichstag, die eine Hälfte in Schwarz-Weiß, das zerschossene Gebäude von 1945.
“Frieden ist nicht selbstverständlich” steht darunter. Auch Emmanuel Macron lässt
Trümmerfrauen durch einen Wahlwerbeclip huschen. “Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg war
Europa so wichtig”, appelliert Frankreichs Präsident an die Bürgerinnen und Bürger Europas:
“Und doch war Europa noch nie in so großer Gefahr.”
In vier Wochen, Ende Mai, wird ein neues Europaparlament gewählt. Je näher die Wahl rückt,
desto dumpfer dröhnt es von allen Seiten. “Schicksalswahl” – wie eine Glocke hängt das Wort
über der Entscheidung.
Europa stehe vor einer “Schicksalswahl”, sagt Andrea Nahles, SPD. Ist die Europawahl eine
Schicksalswahl, wird Christian Lindner gefragt. “Auf jeden Fall”, antwortet der FDP-Chef. Auch
Dietmar Bartsch, Die Linke, benutzt das S-Wort. Und Manfred Weber, CSU, der Präsident der
EU-Kommission werden möchte, sieht 2019 gar als “Schicksalsjahr für Europa”.
Merkwürdig – gestern noch galten Europawahlen als langweilig; und nun soll am 26. Mai über
das Schicksal des Kontinents entschieden werden. Gestern stand infrage, ob das Europaparlament
überhaupt ein richtiges Parlament sei; und nun – geht es um Krieg oder Frieden?
“Ein Dreivierteljahrhundert nach der Niederlage des Faschismus … wird wieder ein Kampf um
die Zivilisation geführt”, schreibt der um keine Kampagne verlegene Großschriftsteller
Bernard-Henri Lévy in einem Aufruf zur Europawahl. 30 Autorinnen und Autoren haben ihn
unterzeichnet, unter ihnen Milan Kundera, Orhan Pamuk, Herta Müller. In dramatischen Worten
warnen sie vor einem neuen Totalitarismus: “Wenn kein neuer Geist des Widerstands hervortritt,
dann verspricht diese Wahl die unheilvollste Wahl zu werden, die wir erlebt haben.”
Europa steht zweifellos vor großen Herausforderungen – durch Trumps Politik, die Konkurrenz
aus China, das unklare Verhältnis zu Afrika, Kriege und Konflikte in der Nachbarschaft, von
der Ukraine bis nach Libyen. Das Umfeld, in dem die EU agiert, hat sich fundamental verändert.
Doch die Wahlkämpfer verharren in den Kulissen des 20. Jahrhunderts: Endlich wieder
Widerstand! Die Europawahl als antifaschistischer Abwehrkampf. Dabei merken sie nicht, dass
ihre Gegner, Nationalisten und Populisten, mit denselben dramatischen Gesten operieren. Auch
der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán behauptet, am 26. Mai gehe es um viel mehr als
nur um eine Wahl: “Es geht um die Existenz unserer christlichen Zivilisation.”
Nationalisten kämpfen gegen Globalisten, Autoritäre gegen Liberale, die Vertreter
geschlossener Gesellschaften gegen die Weltoffenen – dieses Deutungsmuster hat sich
eingeprägt, seit Donald Trump 2016 zum US-Präsidenten gewählt wurde und eine Mehrheit der
Briten für den Brexit stimmte. Nun wird es auf die Europawahl übertragen. “Bleibt Europa
liberal, weltoffen und auf Kooperation ausgerichtet – oder wird es autoritär, nationalistisch,
hasserfüllt?”, fragt Katarina Barley, die für die SPD als Spitzenkandidatin bei der Europawahl
antritt. Emmanuel Macron beschwört die Auseinandersetzung zwischen “Progressiven und
Nationalisten”; der Nationalismus habe sich in Europa “wie die Lepra” ausgebreitet. Vor zwei
Jahren, als er bei der französischen Präsidentschaftswahl über Marine Le Pen triumphierte, war
Macron mit dieser Zuspitzung erfolgreich. Nun skizziert er dieselbe Schlachtordnung: liberale
Pro-Europäer gegen autoritäre Anti-Europäer. Doch Europas Zukunft lässt sich so nicht
gewinnen.
Das Erstarken der radikalen Rechten, von Nationalisten und Populisten, ist nicht zu
übersehen. Die Lega in Italien, die FPÖ in Österreich, PiS in Polen, die Schwedendemokraten
und demnächst wahrscheinlich Vox in Spanien – sie alle sind Teil eines
grundstürzenden Wandels. Die politische Mitte ist unter Druck; in vielen Ländern sind die
Parteiensysteme aufgebrochen. Bereits die Europawahl vor fünf Jahren hat viele Trends, die die
EU erschüttern, vorweggenommen. In Frankreich wurde Marine Le Pens Front National (heute
Rassemblement National) zur stärksten Partei; in Deutschland schaffte die AfD den Sprung über
die Fünf-Prozent-Hürde.
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