Wenn Eltern beschließen, cool zu sein, werden sie für ihre Kinder meistens
ziemlich uncool. Besonders gut zu beobachten ist das in sozialen Medien: Mama loggt sich bei
Facebook ein, Tochter loggt sich aus – wie peinlich! – oder löscht gleich den Account.
Instagram, Snapchat und Co. sind wie Peter Pans Nimmerland, in dem Jugendliche nicht älter
werden und Erwachsene keinen Zutritt haben. Theoretisch.
Dass auch soziale Medien altern, kann man derzeit bei der Video-App TikTok beobachten, einer
Plattform der Selfie-Generation, die in den 2000ern geboren wurde. TikTok funktioniert wie
eine digitale Bühne: Nutzer drehen 15-sekündige Videoclips, in denen sie tanzen, singen oder
Quatsch machen, unterlegen ihre Performance mit Musik und laden die Videos anschließend ins
Netzwerk hoch. Dort werden die Clips gelikt, kommentiert und geteilt – und zwar weltweit. Das
ist der Unterschied zu Instagram, Facebook und Snapchat: Nicht nur der Freundeskreis ist das
Publikum, sondern eine globale Gruppe, die sich um Trendthemen bildet.
Bis vor Kurzem gehörten die schwäbischen Zwillinge Lisa und Lena, 16 Jahre alt, zu den
erfolgreichsten Influencerinnen auf TikTok. Vier Jahre lang drehten die beiden Kurzvideos über
sich und ihren Alltag: Lisa und Lena tanzen auf einem Feldweg synchron und in coolen
Klamotten. Lisa und Lena singen Playback die Hits des vergangenen Sommers. Lisa und Lena
lachen sich an und aus. Mit ihren glitzernden Zahnspangen wurden sie berühmt, weil sie so
aussahen, als wollten sie nie wirklich berühmt werden. 30 Millionen Follower hatte ihr
TikTok-Profil, mehr als jedes andere weltweit.
Dann das: “Wir glauben es ist Zeit, weiterzuziehen und neue Wege zu gehen. Wir werden
erwachsen und unsere Interessen ändern sich”, posteten die beiden an ihre Fans. Vier Herzchen.
Dann war der TikTok-Account weg. Das ist hart für TikTok, weil es auf Nutzerwachstum
angewiesen ist, um möglichst attraktiv für Werbekunden zu sein. Laut dem Fachportal
Digiday
sind rund vier Millionen TikTok-Nutzer in Deutschland angemeldet, weltweit
sollen es 130 Millionen sein. Zwar liegt Instagram mit einer halben Milliarde Nutzern weltweit
deutlich vor TikTok, allerdings gehörte TikTok 2018 zu den Top Five der am häufigsten
heruntergeladenen Apps – vor Instagram und dem Konkurrenten Snapchat.
TikTok verdient auf zwei Arten Geld. Erstens schaltet es Anzeigen im Video-Format:
15-sekündige Clips, unterlegt mit Musik und auch sonst kaum zu unterscheiden von den Videos
der Nutzer. Zweitens betreibt TikTok ein virtuelles Münzsystem. “TikToker” können ihr Guthaben
aufladen und in virtuelle Münzen umwandeln. Davon kaufen sie Emojis, die sie zu einzelnen
Videos ihrer Lieblingsstars posten können. Ein Panda-Emoji mit Sonnenbrille gibt es für 50
Cent, eine glitzernde Figur namens Drama Queen für rund 60 Euro. Viele Emojis zu bekommen
steigert das Ansehen innerhalb von TikTok.
Lisa und Lena sammeln jetzt keine Emojis mehr von ihren Fans. Das kann auch dem hoch
gehandelten chinesischen Start-up ByteDance nicht gefallen, das TikTok betreibt. Und doch gibt
sich die Plattform alles andere als beleidigt. Man könne verstehen, dass sich Lisa und Lena
weiterentwickeln, sagt eine Sprecherin des Unternehmens. Auch TikTok werde erwachsen.
Unbestätigte Statistiken gehen davon aus, dass der Großteil der Nutzer unter 20 Jahre alt ist.
Wie alt die Nutzer im Schnitt wirklich sind, gibt das Unternehmen nicht bekannt, wohl aber,
dass das Durchschnittsalter nicht – wie manchmal behauptet – 14 betrage. Offiziell ist die App
erst für Kinder ab 13 Jahren erlaubt, allerdings können Nutzer selbst das Alter angeben.
Wird TikTok jetzt, da Lisa und Lena weg sind, älter, kriegt es gar erste Falten? Könnte sein.
Mittlerweile entdecken Sportvereine die Plattform, deren Fangemeinde deutlich älter ist. In
dieser Woche wird ein weiterer Fußballverein seinen TikTok-Account bekannt geben, bisher sind
Borussia Dortmund, der 1. FC Köln, der HSV und der FC Bayern in dem Netzwerk vertreten. Laut
einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Allensbach ist der Großteil der Fußballfans
zwischen 50 und 59 Jahre alt. Die werden sich natürlich nicht alle auf TikTok anmelden. Aber
den Jungen reicht oft schon das Gefühl, dass die Alten kommen, um sich ein neues Nimmerland zu
suchen.
Mit dem Eintritt der Clubs weite sich der Nutzerkreis, sagt eine Sprecherin von TikTok. Sport
sei die zweitgrößte Kategorie in dem Netzwerk. Die ältere Fußballfangemeinde könne auch ältere
Fans anlocken. Es könnte also seriöser werden.
Eine Hoffnung dabei: Eine ältere Nutzerschaft würde für weniger Probleme mit dem Jugendschutz
sorgen. Zuletzt wurde gegen Musical.ly, den TikTok-Vorgänger, der von ByteDance aufgekauft wurde, eine Geldstrafe von 5,7 Millionen Dollar verhängt. Laut einer amerikanischen Verbraucherschutzbehörde hatte Musical.ly Daten von unter 13-Jährigen gespeichert hat – ohne die Einwilligung der Eltern.
In der Kritik stehen immer wieder auch Challenges, also Herausforderungen, die sich TikToker
untereinander in ihren Videos stellen. Bei der “Waist Challenge” luden Mädchen Videos hoch, in
denen sie ihren Po und eine möglichst schmale Taille präsentierten. 67 Millionen Mal wurde das
Hashtag #waistchallenge aufgerufen. Verbraucherschützer kritisierten, dass TikTok derartige
Inhalte nicht blockiere und damit Mobbern und Pädophilen Material liefere. Harmloser sind die
Posts der Fußballclubs allemal. Das Maskottchen des HSV, ein blauer Dino namens Hermann,
kopiert Tanzeinlagen zu bekannten Hits und wirkt dabei ziemlich drollig. Beim FC Bayern
übernimmt ein brauner Bär den Entertainment-Job. Ein Bayern-Fan, vermutlich älter, twittert
verwirrt: “Was ist TikTok?” Noch scheint die Plattform also eher cool als peinlich zu sein.
Korrekturhinweis: Im Originalartikel hieß es, dass gegen ByteDance eine Geldstrafe verhängt worden sei. Tatsächlich wurde die Strafe gegen Musical.ly verhängt, das Unternehmen wurde von ByteDance aufgekauft. Wir bitten, den Fehler zu entschuldigen.
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