Mit dem deutschen Auto ist
es wie mit dem Fußball. Nichts kann seiner Popularität etwas anhaben – keine
Krise, kein Skandal, kein Beschiss. Da kann der ehemalige Volkswagen-Chef unter
Betrugsanklage stehen, der Daimler-Konzern mit neuen Manipulationsvorwürfen
konfrontiert sein, die ganze Branche vor einem existenzbedrohenden Wandel
stehen: Die Deutschen fahren einfach weiter, als wäre nichts passiert, ganz wie
sie vermutlich auch dann noch Fußball gucken würden, wenn die halbe
Nationalmannschaft samt Trainer wegen Steuerhinterziehung hinter Gittern
säße.
Deutschland ist nicht nur
das Land der Dichter und Denker. Es ist auch das Land der Lenker. Nirgendwo ist
das Auto derart verwoben mit der nationalen Identität. Das deutsche Automobil –
das sind wir selbst. Eben deshalb regt das Thema die Deutschen auf wie kaum ein
anderes: Wer das deutsche Auto angreift, der greift auch die Deutschen an.
Die Autodebatte hat nicht
nur eine wirtschaftliche, politische und ökologische Dimension. Es geht nicht
nur um die Zukunft des Verbrennungsmotors, um Stickoxid- und Feinstaubwerte, um
Tempolimits und Elektromobilität. Es geht auch um eine deutsche Lebensform,
eine nahezu totale Autokultur, die dieses Land bis in den letzten Winkel
durchdringt. Das Auto steckt tief in unseren Köpfen, es bestimmt unser Leben. Wir
müssen die Autodebatte daher viel radikaler, viel grundsätzlicher führen. Es
geht darum, was das Auto für uns bedeutet.
Es ist der Blick des
Fahrers, seine Sicht der Welt – die “Fahrerperspektive”. Der Blick des
Autofahrers ist primär nach vorn auf die Straße gerichtet. Was immer ihm beim
Fahren begegnet, das nimmt er als potenzielles Hindernis wahr. Die Perspektive
des Fahrers ist eine verengte Perspektive, sein Blick ein Tunnelblick, der aufs
Fahren selbst fixiert ist, aufs möglichst zügige und unbehinderte Vorankommen.
Die Fahrerperspektive – das
ist der Blick durch die Frontscheibe, die Perspektive des automobilen Subjekts.
Das ist nicht nur der Blick des deutschen Autofahrers. Es ist auch die
Sichtweise der Automobilindustrie. Wir leben in einer Welt, die auf die
Fahrerperspektive zugeschnitten ist. Eben deshalb fällt es uns so schwer, uns
vom Auto zu trennen.
Das Automobil ist für die Deutschen
nicht einfach nur ein Fortbewegungsmittel. Es ist der deutsche Traum von
Freiheit, von Selbstbewegung (“Auto-Mobilität”), von einer Bewegung um ihrer
selbst willen, die sich in der Freude am Fahren manifestiert. Die Krise des
deutschen Autos ist die Krise dieser Selbstbewegung. Es ist die Krise des
automobilen Subjekts, jenes merkwürdigen Hybridwesens aus Mensch und Technik,
das in Deutschland seine am höchsten entwickelte Gestalt angenommen hat. Es ist
die Krise der deutschen Fahrerperspektive, einer deutschen Sicht auf die Welt.
Die Dieselkrise trifft nicht nur die deutsche
Automobilindustrie, von der dieses Land wirtschaftlich so abhängig ist. Sie
trifft auch einen nationalen Mythos, der wie kein anderer unser
Selbstverständnis prägt. Das deutsche Automobil steht für vieles, was den
Deutschen wichtig ist, für Zuverlässigkeit und Qualität, für Ingenieurskunst
und technische Perfektion. Es steht für Exportstärke und Wirtschaftsmacht, für
den Wiederaufstieg Deutschlands nach dem Krieg. Zum deutschen Automythos
gehören Pioniere wie Carl Benz und Ferdinand Porsche, dazu gehört die globale
Ikone VW Käfer, dazu gehören Motorsportlegenden
wie Walter Röhrl und Michael Schumacher, die viele Deutsche für die besten
Autofahrer aller Zeiten halten, so sie es nicht selbst sind. Wenn wir die
Beziehung der Deutschen zum Auto verstehen wollen, müssen wir ihre Geschichte
kennen.
Das Auto als postheroisches Narrativ vom Deutschen
Das Auto wurde zwar in Deutschland erfunden. Doch noch
Anfang des 20. Jahrhunderts war es das exklusive Vergnügen für einige wenige
Reiche. Erst mussten sich die Deutschen von den Franzosen vorführen lassen, wie
man das Auto erfolgreich vermarktet. Dann zeigten die Amerikaner mit Fords Model T, wie man daraus ein Massenprodukt macht. Um die
rückständigen einheimischen Hersteller vor US-Importen zu schützen, griff man in der Zwischenkriegszeit sogar zu protektionistischen Maßnahmen.
Es entbehrt insofern nicht einer gewissen Ironie, wenn sich deutsche Hersteller
und Politiker heute über Donald Trumps Androhung von Strafzöllen gegen die
deutsche Autoindustrie beschweren. Noch in den Dreißigerjahren fuhren die deutschen
Hersteller der Konkurrenz hoffnungslos hinterher. Erst Hitlers Motorisierungsprogramm,
das sich am Vorbild Ford orientierte,
versprach das Auto für jedermann. Das Autobahnprojekt blieb zwar weiter
hinter den Propagandazielen zurück. Vom “Volkswagen” gelangte kein einziges
Auto zum Kunden; stattdessen liefen in Wolfsburg militärische Kübelwägen vom
Band. Aber die NS-Politik schuf die Voraussetzungen für das spätere deutsche
Autowunder. Nach dem Krieg fuhren die Deutschen nicht nur auf Hitlers Autobahnen. Viele
saßen auch in Autos, die in Hitlers Auftrag konstruiert worden waren.
Kein anderes Produkt hat nach
1945 so sehr dazu beigetragen, das Bild von den Deutschen zu erneuern, wie das
Automobil. Auf den Straßen der Welt rollen heute keine deutschen Panzer,
sondern deutsche Autos. Der deutsche Automythos, das ist das postheroische
Narrativ vom Deutschen, der es dank überlegener Technik geschafft hat, auf
friedlichem Wege wieder Größe zu gewinnen.
Heute achten die
Autohersteller sorgfältig darauf, alle militaristischen Konnotationen, alle möglichen
Assoziationen zur NS-Zeit zu vermeiden. Kühlerhauben dürfen zwar
martialisch-aggressiv anmuten, aber keine dunklen Erinnerungen wecken. Ein
deutsches SUV muss sich wie ein Panzer anfühlen, doch so aussehen darf es
nicht. Zumindest äußerlich hat man dem deutschen Automobil den Willen zu Macht
und Größe ausgetrieben. Aus der “Kraft durch Freude”, die der Volkswagen
versprach, wurde nach dem Krieg die “Freude am Fahren”.
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