In dem Shooter The Division 2
gibt es eine Nebenmission, die in einer Bibliothek spielt. Die Spieler und
Spielerinnen sollen Geiseln befreien, die in dem Gebäude eingesperrt sind.
Betreten sie die Eingangshalle, werden sie beschossen. Die maskierten Gegner gehören einer an Gang, den Hyenas. Diese und andere Gruppen
marodieren durch die Straßen von Washington, D.C., nachdem ein Virus die
Zivilisation zum Zusammenbruch gebracht hat.
Die Bibliothek, in der der Kampf
spielt, existiert tatsächlich in Washington, D.C. Sie ist nach Martin Luther King Jr. benannt,
dem 1968 erschossenen afroamerikanischen Bürgerrechtler. Erbaut wurde sie 1972,
vier Jahre nach seinem Tod. Sie misst 37.000 Quadratmeter, den Großteil dieses
Platzes nehmen Bände über afroamerikanische Geschichte ein. Das sind die Fakten.
Sie konstituieren das mit, was wir Realität nennen. Aber nicht nur durch ihre
materielle Existenz, sondern auch durch die Bilder und Assoziationen, die sie
hervorrufen. Die Bibliothek Martin Luther King Jr. zum Beispiel kann man kaum
betrachten, ohne die Unterdrückung der People of Color in den USA zu
assoziieren, ihren Freiheitskampf in den Sechzigerjahren.
Die Geiseln sind tot
Aufsattelnd auf diese Assoziationen
ließen sich viele Geschichten erzählen – auch in einem Videospiel. Doch wenn die
Spieler und Spielerinnen in The Division 2 diese Bibliothek betreten, geht es
darum, die Gegner auszulöschen, denn sie gehören zu einem Aufräumkommando namens The Division. Erreichen sie endlich das Zimmer mit den Geiseln,
können sie diese nur noch tot auffinden. Drei Menschen sind hier gestorben, in einer Abstellkammer. Doch
das Spiel pausiert nicht, lässt die Szene, die Umgebung nicht wirken. Denn der
nächste Teil der Mission wartet schon: Auf dem Dach der Bibliothek sind weitere
Gegner, bitte auslöschen. Der Schauplatz dieser Szene, die Bibliothek mit ihren
historischen Konnotationen, spielt für die Erzählung keine Rolle. Sie ist nicht
mehr als eine Kulisse. Die Szene könnte genauso gut in einer Tiefgarage spielen.
In The Division 2 gibt es immer wieder solche Szenen,
in denen sogenannte Aufständische zu bekämpfen sind, ohne dass je kontextualisiert
wird, wieso sie eigentlich die Bösen sind und die Spieler die Guten.
Bücher, Filme, Serien – praktisch
alle kulturellen Werke nutzen historische, gesellschaftliche Assoziationen oft,
um ihre Geschichten zu unterfüttern oder eine Atmosphäre zu kreieren. Videospiele aber verzichten meist
genau darauf. Sie nutzen die Echtwelt als Kulisse, die es aufwändig und
möglichst naturgetreu nachzubilden gilt – allerdings nur als Oberfläche,
befreit von allen Schichten von Bedeutung und Kontext, die Orten und
Ereignissen in der realen Welt anhaften.
Ein realistisches Washington, D.C.
Washington, D.C., sieht in The
Division 2 dem Ort verblüffend ähnlich, den man erleben kann, wenn man in den
Osten der USA reist. Minus die Zerstörung natürlich. “Wenn du dich in der
echten Stadt gut auskennst, wirst du dich auch im Spiel direkt zurechtfinden
können”, sagt Mathias Karlson, Game Director von The Division 2. Dazu habe
man GPS-Daten, Satellitenbilder oder Baupläne von Gebäuden genutzt, um die
Hauptstadt der USA nahezu eins zu eins im Videospiel nachzubauen. Wegen des
Umfangs, des Detailreichtums des Spiels bezeichnet er Division 2 als “Monstergame”.
Damit hat er auch recht. The
Division 2 ist ein gigantisches Spiel. Eines, in das Spieler viele, viele
Stunden investieren können. Alleine oder zusammen mit anderen Onlinespielern
erkunden die Gamer eine riesige verfallene Stadt. In Tonaufnahmen oder
Dokumenten können sie mehr über die Schicksale der einstigen Bewohner der Stadt
erfahren. The Division 2 bietet durchaus ordentlich Spielspaß – auch durch
die vielen Herausforderungen, die es bietet. Es kann einen staunen lassen.
Doch trotz der vielen Details und
Spuren zu Einzelschicksalen kann es sich leer anfühlen, substanzlos. Denn der
Realismus des Spiels bewegt sich zu sehr an der Oberfläche. Es geht ihm nicht
um größere Zusammenhänge, die sich aus der Umgebung des Spiels ableiten ließen.
Aufständische, Aufräumkommandos, der Niedergang der Zivilisation: All das wird
lediglich gezeigt, aber nur selten kontextualisiert. Wie sich die Gesellschaft
an einen Punkt entwickelt hat, an dem ein derartiger Zusammenbruch möglich ist,
wie sich das auf Menschen auswirkt und was das über unsere Realität aussagen könnte –
all das wird kaum erzählt.
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