Die New IRA gab sich an diesem Dienstagmorgen reumütig: Für den tragischen Tod der Journalistin Lyra McKee bot die irisch-republikanische Gruppe ihre “volle und aufrichtige Entschuldigung”. Sie habe ihre Mitglieder angewiesen, in Zukunft “bei Konfrontationen mit dem Feind äußerste Vorsicht walten zu lassen”. Die 29-jährige McKee starb in der Nacht auf Freitag, als sie während Zusammenstößen zwischen republikanischen Dissidenten und der Polizei in der nordirischen Stadt Derry (auch Londonderry genannt) von Kugeln getroffen wurde.
Den Tod der Journalistin beschreibt die New IRA zwar als Unfall, aber die Gruppe hat ihre gezielten Attacken in den vergangenen Monaten intensiviert. Im Januar legte sie eine Autobombe im Zentrum von Derry, im März schickte sie Briefbomben an drei Londoner Verkehrsknotenpunkte sowie die Universität von Glasgow. Die New IRA ist die größte und aktivste der kleinen republikanischen Organisationen, die den Friedensprozess zurückweisen und ihr Ziel eines vereinten Irlands weiterhin mit gewaltsamen Mitteln verfolgen.
Die sogenannten Troubles, die in den späten Sechzigerjahren begannen und in den folgenden dreißig Jahren 3.500 Todesopfer forderten, wurden mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 offiziell beendet. Seither haben sich Republikaner und Unionisten die Macht in Nordirland geteilt. Die Provisional IRA, die wichtigste republikanische Organisation während des Konflikts, verpflichtete sich schließlich 2005, ihre Waffen abzugeben.
Doch manche Splittergruppen verweigern sich noch immer dem Friedensprozess. In den Jahren nach der Unterzeichnung des Karfreitagsabkommens hielten sich die Dissidenten zunächst weitgehend zurück. Das änderte sich vor über zehn Jahren. Alles begann mit vereinzelten Angriffen auf Sicherheitsleute und britische Soldaten, die dennoch Schlagzeilen machten. Die New IRA wurde 2012 gegründet. Sie entstand aus einem Zusammenschluss kleinerer Organisationen und ist besonders in Derry sowie Teilen von Belfast aktiv. Laut Schätzungen der Polizei hat sie mehrere hundert Unterstützer, sowohl ältere ehemalige IRA-Mitglieder als auch jüngere Nordirinnen und Nordiren, die die Troubles nicht selbst miterlebt haben. Die New IRA nimmt oft Mitglieder der eigenen, katholisch-republikanischen Community ins Visier, vornehmlich solche, die sie krimineller Handlungen beschuldigen.
Im Gegensatz zur IRA während der Troubles fehlt jedoch der Rückhalt in der Bevölkerung. “Wir haben es nicht mit einer breiten Kampagne zu tun, sondern mit vereinzelten Individuen aus bestimmten Communities”, sagt Thomas Leahy, Dozent für irische Geschichte und Politik an der Universität Cardiff. Dass sich junge Leute zu gewalttätigen Organisationen hingezogen fühlen, habe verschiedene Ursachen: “Manche Jungs aus irisch-nationalistischen Arbeitervierteln und ländlichen Gegenden leben in Armut und fühlen sich ausgeschlossen. Sie sind besonders anfällig für charismatische lokale Führungsleute aus Dissidentengruppen, die sie zu rekrutieren versuchen.” Auch haben Familientraditionen einen Einfluss auf die Haltung von jungen Menschen: “Wenn die Eltern gegen das Karfreitagsabkommen waren, dann stehen die Chancen hoch, dass es auch ihre Kinder ablehnen”, sagt Leahy.
Fragiler Frieden
Die politischen Probleme in Nordirland haben die Situation verkompliziert. Anfang 2017 führten Meinungsverschiedenheiten zwischen der unionistischen Democratic Unionist Party (DUP) und der republikanischen Sinn Féin zum Zusammenbruch der Regierung, seither ist Nordirland ohne Exekutive. Sinn Féin fordert, dass die irische Sprache öffentlich gefördert wird, ähnlich wie das Walisische in Wales, aber die DUP sieht darin eine Aufweichung der britischen Identität. Bislang haben Gespräche zwischen den beiden Parteien noch keine Einigung gebracht.
Die Vorfälle der vergangenen Monate zeigen, wie fragil der Frieden in Nordirland ist. Das Risiko für neue Gewaltausbrüche ist hoch. Im letzten Jahr mussten nordirische Bombenentschärfungskommandos durchschnittlich viermal die Woche ausrücken, die Polizei beschlagnahmte 45 Schusswaffen.
Doch in der breiteren katholischen Community, wo die Sympathien für ein vereintes Irland stark sind, fehlt das Verständnis für die Methoden von Gruppen wie der New IRA. Deren Zustimmungswerte in Nordirland erreichen kaum ein Prozent. “Die Troubles haben gezeigt, dass die gewaltsame Kampagne der Provisional IRA die britische Armee und Polizei nicht besiegen konnte – der Konflikt endete in einem Patt”, sagt Leahy. “Es gibt noch immer ein politisches Patt zwischen jenen, die ein geeintes Irland wollen und den britischen Protestanten, die dies ablehnen. Gewalt wird das nicht ändern.” Sinn Féin, die größte republikanische Partei, die früher der IRA nahestand, habe in den vergangenen zwanzig Jahren gerade deswegen so viel Unterstützung gewonnen, weil sie der Gewalt abgeschworen hat. Im Gegensatz zur DUP ist die Partei auch sozialliberaler geworden und hat sich beispielsweise in Fragen wie Homosexualität oder Abtreibung dem Zeitgeist angepasst; dadurch ist Sinn Féin bei vielen jungen Leuten beliebter geworden.
Wie wenig Unterstützung die gewalttätigen Dissidenten in der Gesellschaft haben, zeigte sich nach dem Tod von McKee. Von allen Seiten wurde die New IRA verurteilt, die stellvertretende Chefin von Sinn Féin, Michelle O’Neill, bezeichnete den Mord als “Angriff auf alle Menschen in dieser Community, auf unseren Friedensprozess und das Karfreitagsabkommen”. Laut Polizei haben sich 140 Leute gemeldet, um Informationen über den Vorfall zu geben – in Zeiten der Troubles wäre das unvorstellbar gewesen.
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