/Kinofilme: Sehen statt glotzen

Kinofilme: Sehen statt glotzen

Das
Kino ist in der Krise. Ja, immer noch. Kinos sterben. Erst letzte Woche wurden
zwei der ältesten Kinos Deutschlands geschlossen: Das Intimes in Berlin und das Gabriel in
München
. Obwohl noch immer
jeden Donnerstag eine unübersichtlich große Zahl neuer Filme an den Start geht
oder vielleicht gerade deshalb, sinken die Zuschauerzahlen. Die Filmförderanstalt
(FFA) führt das auf die nachlassende Qualität des Filmangebots zurück: “Das
Problem des deutschen Films ist mit Sicherheit kein quantitatives; wir brauchen
aber noch mehr erfolgreiche Filme.”
In Wirklichkeit liegt das Problem woanders, nämlich in der fehlenden
Kuratierung.

Kino
muss kuratiert werden, damit es attraktiv bleibt, damit es lebendig bleibt,
damit es pädagogisch sein kann, ohne dogmatisch zu sein, damit es Spaß macht
und überrascht, damit es wehtut, damit es kontextualisiert, damit es
zurückblickt, damit es Verborgenes offenlegt, damit es Vergessenes zum
Wiedererscheinen bringt – und vor allem, damit das Publikum Filme sieht, die
nicht nur beeinflusst sind von Entscheidungen der Förderer und der Verleiher
mit ihren ganz eigenen Vergabepolitiken. Der Krise sollte mit kritischen
Kommentaren begegnet werden: 1968 wurde aus einem kritischen Kommentar zum
damaligen Filmförderungsgesetz der noch heute sehenswerte Skandalfilm Besonders wertvoll (Hellmuth Costard), in dem ein sprechender Penis
konservative Reden zum Gesetz vortrug. Und die Krise kann zum Anlass werden,
neue Lösungen zu erarbeiten: Jüngst haben sich Gleichgesinnte
spartenübergreifend zum Hauptverband der Cinephilie zusammengeschlossen,
um an praktischen Lösungen für die Kinoarbeit im Allgemeinen und das Kuratieren
im Speziellen zu arbeiten.

Jennifer Borrmann

Jennifer Borrmann lebt mit ihrer Familie in Berlin, wo sie als Filmkritikerin vor allem für “Filmdienst” und “ray Filmmagazin” schreibt und als Kuratorin und Filmvorführerin arbeitet. Sie hat Geschichte und Literaturwissenschaft studiert und ist Autorin einer Biografie über den Filmkritiker und Journalisten Manfred George.
© privat

Das Kuratieren ist eine Kunst und eine Liebeserklärung an den Film und seine
Geschichte. Der Film – Inhalt, Kontext, Format, Technik – ist das Zentrum
dieser Kunst. Kuratieren, das pflegen oder kümmern bedeuten kann, ist eine
Arbeit, die ins Kino gehört, weil damit von Kennern Zusammenhänge, Geschichte
und Referenzen offengelegt werden. Am Ende ist es egal, ob ein Film alt ist
oder gerade ins Kino kommt. Das erstmalige Sehen macht ihn neu. Eine
tagesaktuelle Relevanz muss ich selbst daraus ziehen, wenn die eine andere ist
als zur zeitgenössischen Veröffentlichung, umso besser – es vervielfältigt sich
dabei eine filmische wie wirkliche Realität, doppelte Böden entstehen,
Metaebenen. Das macht den Film vielschichtiger. Im besten Falle kann der
Kurator ein erweitertes Bewusstsein schaffen. Und unsere Sehgewohnheiten prägen.

Kuratieren als Sehschule

Die
erste Filmkuratorin in meinem eigenen Leben war meine Mutter. In dem wuchtigen
Schuhschrank, auf dem unser Röhrenfernsehgerät stand, waren zahlreiche Filme
auf überspielten VHS-Kassetten gelagert. Noch heute ist Stanley Donens und Gene
Kellys Singing in der Rain für mich eng
verbunden mit Richard Attenboroughs A Chorus Line. Erst viel später wurde mir klar, welche Beispiele eines
klassischen Filmkanons ich da – immer und immer wieder – gesehen hatte und wie
beide in einen filmhistorischen Zusammenhang gebracht wurden. Beide
Musicalfilme als vielschichtige, zeitkritische und historische Einblicke in
die Film- und Theaterarbeit mit zahlreichen Referenzen auf weitere Werke ihrer
jeweiligen Kunstform in Stumm- und Tonfilm und auch auf dem Broadway. So waren
erstaunlicherweise alle Videokassetten passend bestückt. Entweder historisch,
thematisch, nach Genre oder personell: Clyde Geronimis Dornröschen mit Wolfgang Reithermans Robin Hood beispielsweise. Und ich wuchs mit der wohl einzigen
vollständigen Bette-Midler-Retrospektive
in Deutschland auf. Diese und viele weitere Filmzusammenstellungen, aufgenommen
aus den unendlich scheinenden Weiten des Filmarchivs der öffentlich-rechtlichen
Sendeanstalten am Ende der Achtziger- und Anfang der Neunzigerjahre, haben meinen
Blick und meine Liebe zum Film bis heute geprägt. Sie waren meine Sehschule.

Kuratieren oder Programmieren

Das einzige kinoähnliche
Moment meiner Kindheit waren die wenigen Tage, an denen das Kinomobil in unser
Dorf kam, den mobilen 35-mm-Projektor in das örtliche Rathaus hievte. Schon hier
war aber klar: Die besonderen Filme, die ich bisher nur nachts im Fernsehen
schauen konnte, fand ich hier nicht. Warum? Hier wurde vor allem programmiert:
Filme wurden danach ausgewählt, ob sie wirtschaftlich waren. Kuratieren jedoch wird
vom Inhalt gelenkt. Es ist eine von Sinnlichkeit und Ästhetik geführte Auswahl.
Auch wenn ökonomische Grenzen eines Budget immer bewusst oder unbewusst mit
einfließen: Der Kurator oder die Kuratorin wählt in erster Linie nach inhaltlichen Gesetzpunkten
aus, die er sich für seine Art von Exponierung – sei es nun im Kino, im Museum,
auf einem Festival, in einer Filmreihe – vorgenommen hat. Einem kommerziellen Kino,
das nun einmal wirtschaftlich denken muss, damit es überleben kann, sind klare
Grenzen solcher Filmzusammenstellung gesetzt; denn Kuratieren ist, wenn man so
will, der ökonomisch naive Wille, seiner Cinephilie filmgestalterischen
Ausdruck zu verleihen. Der Grat zwischen Cinephilie und Wirtschaftlichkeit ist
sehr schmal. Er muss aber gewagt werden, wenn es ein besseres Kino (und
-programm) geben soll. Was aber politisch nicht gewollt ist, wird in der
alltäglichen Kinoarbeit nicht realisierbar sein. Deshalb müssen die
Möglichkeiten und Wege, Film im Kino zu zeigen, überdacht werden.

Hits: 54