Das
lichte Büro im Dior-Stammhaus an der Pariser Avenue Montaigne könnte auch einer
Vogue-Chefredakteurin gehören. Die Wände sind wie tapeziert mit gerahmten
Zeitschriftencovers, von denen Dior tragende Schönheiten aus aller Frauen
Länder schauen. Ob man sich hier je unbeobachtet fühlt? Und ob jede “Vogue”-Chefin vor mehreren Wartenden das täte, was Maria Grazia Chiuri beim
Hereinkommen als Erstes tut? Sofort greift sie sich einen der Minikuchen auf
dem Besprechungstisch, beißt hinein und nickt anerkennend.
Diors Artistic Director wirkt jünger als
bei unserem Kennenlernen vor acht Jahren, damals noch im Palazzo von Valentino,
wo Maria Grazia Chiuri bis 2016 Co-Kreativdirektor war. Ihre Augen blitzen, sie
ist bester Laune und hat allen Grund dazu: Beim gestrigen Couture-Defilee Spring/Summer 2019 von Dior – Plissees wie flüssiges
Metall, Harlekinvolants und Conferencier-Fracks, dazu Artistenkappen – fanden die Kleider und die
Körper darunter so unwiderstehlich zusammen, wie es sich für ikonische
Schneiderkunst gehört. Die Medien jubelten.
Für “Weltkunst” wollen wir über die Beziehung
der 55-Jährigen zur Kunst sprechen, beruflich wie privat. Als Omen für das
englisch geführte Interview mag gelten, was mir erst beim Transkribieren
auffiel: Maria Grazia Chiuri spricht das Wort art gern mit einem
prononcierten “h” vorneweg aus. Wodurch es wie “heart” klingt,
Herz.
Frage: Deine Couture zitiert die poetische Idee des
Zirkus, wie wir sie aus Picassos blauer und rosa Periode kennen. Wie kamst Du
darauf?
Maria Grazia Chiuri: Ganz
am Anfang stand Picassos Bühnenprospekt für das Ballett Parade, den ich
vorletzten Winter in Rom sah. Seine Dimensionen sind unfassbar, wirklich
gigantisch, wie die Bühnenöffnung eines Theaters! Nur im Palazzo Barberini gab
es einen Raum, in dem so etwas ausgestellt werden konnte. Darauf hat Picasso
sie alle versammelt: die Tänzerin auf dem weißen Pferd, l’arlecchino
im Rautentrikot, das fahrende Volk. Er hat den Vorhang 1917 für ein Projekt mit
Cocteau und den Ballets Russes gemalt. Ich bin absolut fasziniert davon, weil “Parade”
so bedeutende Künstler verbindet, die dabei gemeinsame Sache gemacht haben –
Éric Satie, Diaghilev, Cocteau, Picasso. Man sieht die alten Fotos und denkt:
Oh mein Gott, was für eine großartige, kollaborative Epoche für die Kunst das
war. Auch von Monsieur Dior haben wir Bilder mit Giacometti und Dalí im Archiv.
Frage: Aus der Galerie, die der junge Dior in den
1920ern mit einem Freund geführt hat?
Chiuri: Nein, nein, sie sitzen beim Lunch, im
Café! Je mehr ich über diese Zeit herausfinde, umso mehr denke ich: Was für
eine tolle Story. Paris galt als Stadt der Freiheit, wo alle diese kreativen
Menschen zusammenkamen und die Künste eine unfassbare Blüte erlebten. Picasso
ist das beste Beispiel: Er beschloss, von Spanien nach Frankreich zu ziehen,
weil er das Gefühl hatte, dass er nur hier zu dem Künstler werden konnte, der
er werden wollte. In ganz Europa dominierte um 1900 noch die akademische
Kunstauffassung. Picasso selbst ist damit aufgewachsen, sein Vater war ja
akademischer Maler. Als er in Paris ankam, vergaß er in gewisser Weise alles,
was er zuvor gelernt hatte. Er wollte seine Kunst weiterbringen. Hast du die
Ausstellung über Picassos blaue und rosa Periode im Musée d’Orsay gesehen?
Danach geht man mit anderen Augen durch Paris. Auf einmal sieht man die individuellen
Momente, man versteht die Stadt anders.
Frage: Du bist in Rom geboren, dein Mann und dein
Sohn wohnen nach wie vor dort, während du zwischen Rom und Paris pendelst.
Chiuri: Meine Paris-Begeisterung hängt sicher
damit zusammen. Schon während meines Studiums ging es immer um die eigene, die
italienische Kultur. Da wurde das gaaaanz klassische Programm absolviert.
Internationale Moderne oder gar zeitgenössische Kunst? Pfffft. Italiens
Akademien sind sehr traditionsbewusst, zumindest waren sie das. Als meine Tochter
Rachele in England aufs College ging, war ich überrascht, wie völlig anders der
Ansatz war. Gefiel mir viel besser. Wir erfuhren noch alles über Michelangelo
und Raffael, dazu jede Menge rinascimento – Piero della Francesca, Brunelleschi, Giotto. Mein erster Klassenausflug in der
Volksschule ging in die Vatikanischen Sammlungen. Und später karrte man uns
nach Assisi, um Giottos dortige Fresken anzusehen.
Frage: Daher kommen also die Goldstickereien und
wie von der Sonne gebleichten Pastelle in deiner Mode: Giotto!
© Weltkunst Verlag
Chiuri: (auflachend) Wahrscheinlich. Aber diese
Farben sind überall in Italien, nicht nur in der Kunst. Es ist praktisch
unmöglich, nicht davon beeinflusst zu werden. Ich bin in einer Stadt groß
geworden, wo die Augen ständig auf Vergangenheit treffen.
Das Problem ist: In Rom gibt es derartig
viele kunsthistorisch bedeutsame Orte, dass die Regierung nicht die Mittel hat,
um alle gleichzeitig offen zu halten. Es fehlt einfach das Geld. Als ich die
riesigen Ruinenräume von Neros Domus Aurea zum ersten Mal besichtigt habe, war
ich richtig geschockt. Die Mosaiken, die Wandgemälde, die schiere Dimension
dieses Palastes – und alles unter der Erde. Du gehst da hinunter und erkennst:
Unter Rom liegt ein weiteres Rom. Die Restaurierung der Domus Aurea ist längst
nicht abgeschlossen, aber einen Teil kann man mit einer Tour besichtigen,
glaube ich.
Hits: 4



















