Der Pulitzerpreis ist eine der wichtigsten Auszeichnungen für Publizistik. In der Kategorie Nachrichtenfotografie wurde gerade die Agentur Reuters für ihre Bildberichterstattung der Massenmigration an der US-amerikanischen Grenze gewürdigt. Im Oktober 2018
begleiteten die Kollegen Geflüchtete aus Mittel- und Südamerika auf ihrem Weg in die USA. Sie hätten eine “lebendige und
verblüffende visuelle Erzählung von der Dringlichkeit, Verzweiflung und
Traurigkeit der Migranten” geschaffen, begründete die Pulitzer-Jury ihre Entscheidung.
Solche Bildreportagen sind selten das Werk einzelner. Reuters hatte dafür ein internationales Team aus elf Fotojournalisten zusammengestellt: “Wir haben nicht nur die Überquerung der
Grenzen fotografiert, sondern auch die Gründe dokumentiert, warum die Menschen fliehen, und
die Umstände, was passiert, wenn sie die Grenzen überschreiten und sich in die
neue Gesellschaft integrieren wollen”, erklärte die Reuters-Redakteurin Corinne Perkins nach der Preisvergabe. Und weil Pressefotografen selten Aufmerksamkeit zuteilwird, seien hier noch einmal alle Namen der elf Preisträger genannt: Mike Blake, Lucy Nicholson, Loren Elliott, Edgard Garrido, Adrees Latif, Goran Tomasevic, Kim Kyung Hoon, Alkis Konstantinidis, Carlos Garcia
Rawlins, Carlos Barria und Ueslei Marcelino. Das Reuters-Team wurde bereits im vergangenen Jahr für seine Berichterstattung über die Flüchtklingskrise der Rohingya ausgezeichnet.
Wer sich als Journalist täglich mit Fotos von Tragödien, Krisen, Katastrophen und Krieg beschäftigt, reflektiert unweigerlich die Macht der Bilder. Ihre mediale Verbreitung hat ihnen in den vergangenen Jahren zu mehr Gewicht verholfen, sie können viel bewegen, ein Grund zur Zuversicht. Aber auch zum Nachdenken. Denn so schnell sie sich in alle Welt vervielfältigen, so schnell überschreiben die Bilder von heute auch die von voriger Woche. Oder denkt angesichts der brennenden Kathedrale von Notre-Dame gerade noch jemand an die Verhaftung des graugestaltigen Julian Assange? Sind es nicht viel zu viele visuelle Eindrücke, die jeden Tag auf uns einrauschen?
Umso wichtiger, dass wir uns immer wieder an bedeutende Fotografien, solche mit ikonischem Charakter, erinnern. Bilder wie dieses. Ein einziges Foto erzählt eine komplexe
Geschichte von Globalisierung und Flucht und macht den Betrachter ganz einfach zum Menschen, der Anteil nehmen kann.
Das obige Foto von Adrees Latif ragt aus der Bilderflut heraus. Es fängt den Blick des fünfjährigen
Mädchens Angel Jesus ein. Auf Augenhöhe. Der Journalist steckt bis zum
Oberkörper im Suchiate-Fluss, vor ihm kämpft Luis Acosta gegen die
Wassermassen. Wir Betrachter vermögen nur zu einem gewissen Teil nachzuvollziehen, in welcher Situation diese beiden Menschen sind. Wir wissen,
sie kommen aus Honduras, sind auf dem Weg von Guatemala nach Mexiko. Ob sie
ihr Ziel, die USA erreichen, welche Erfahrungen sie währenddessen machen, ist in diesem Moment ungewiss. Aber wir dürfen diesem Mädchen in die Augen schauen und mit ihm hoffen. Adrees
Latif ist übrigens in Lahore in Pakistan aufgewachsen und lebt heute in New York. Schon 2008 erhielt er für seine Arbeit einen Pulitzerpreis.
Die ausgezeichneten
Reuters-Fotografen haben weitere Szenen eingefangen, so zum Beispiel an der
US-mexikanischen Grenze in Tijuana.
Maria Meza, eine 40-jährige Mutter aus Honduras, versucht mit ihren fünfjährigen Zwillingen Saira und Cheili die USA zu erreichen. Sie flieht vor den Tränengaspatronen der Grenztruppen.
Das Mädchen trägt seine Babypuppe vor der Brust, in seinem Gesicht stehen Zuversicht und Angst. Es ist eines von Tausenden Kindern, die aus Zentralamerika in die USA einreisen wollen.
Indem der Pulitzerpreis für aktuellen Fotojournalismus diese Arbeiten auszeichnet, setzt er ihnen ein Denkmal. Die Szenen, die das Reuters-Team festgehalten hat, erhalten so die Chance, sich gegen das Vergessen zu wehren. Anstatt überschrieben zu werden, können sie sich einschreiben in ein kollektives Gedächtnis der Gegenwart.
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