Trotz aller Schäden wird der Stolz von Paris wiederaufstehen.
Kein Bauwerk ist heilig, niemals hat Gott ein Zuhause. Wenn aber die
Himmelssehnsucht je einen Ort hatte, dann war es Notre-Dame in Paris. Wer immer die Kathedrale
betrat, ein Hauptwerk der Gotik und eine Zentralstätte der ersten europäischen Kunstbewegungen
überhaupt, wurde mitgerissen, wurde emporgehoben in eine ganz ungewohnte Leichtigkeit. Hatten
die romanischen Kirchen ihre Eigenart in dunkler Klarheit, so weitete sich hier, in den
gotischen Strebewerken, in einer Architektur der befreiten Auflösung jede bedrückende Enge in
schier körperlose Offenheit. Aus der bergenden, Halt schenkenden Baukunst des Mittelalters
erwuchs ein ungewohntes, von Logik und Raffinesse bestimmtes Abenteuer des Glaubens: Dieser
Bau war eine Revolution. Und alle, die das Wunderwerk besuchten, konnten die Revolution am
eigenen Leib erfahren, denn hier war beides zugegen, das Romanische und das Gotische, das
Lastende und zugleich das Himmelstürmende.
Notre-Dame, von vielen Schriftstellern besungen, überstieg schon in der Welt des 12. und 13. Jahrhunderts alle Fantasien. Sie war so überirdisch, dass ihre Kraft auch die Ungläubigen erfasste und in eine erhabene Stimmung der Transzendenz zu versetzen vermochte. Allein das Leuchten der wunderbaren Fenster – ein Augenblick, der die Schwere des Vertrauten zurückließ. Ein Moment der Entrückung, technisch überragend in der Konstruktion und zugleich das Gemüt tief ergreifend.
Die politische Revolution, die der Aufklärung, hatte mit diesem Bauwerk wenig anfangen können, sie profanierte die Kirche und machte aus ihr einen Tempel des höchsten Wesens, ganz der Vernunft geweiht, die ihrerseits sehr zerstörerisch wirken sollte. Auch als Weindepot musste die Kathedrale manche Jahre herhalten, sie ist, mit anderen Worten, einiges gewöhnt. Dennoch blieb vieles über die Jahrhunderte bewahrt, die Mensa des Hochaltars, eine laut trauernde Pietà von Nicolas Coustou und viele andere Skulpturen, die wohl ebenso wenig zu ersetzen sein werden wie die Chorschranken des 14. Jahrhunderts mit ihren feingliedrigen Reliefs. Sie zeigten im südlichen Seitenschiff den auferstandenen Erlöser, ausgerechnet.
Wird auch Notre-Dame auferstehen? Dass dieses Bauwerk nun für immer vergangen sein soll, dass
die Wucht der kühnen Konstruktion, die erhellende Klarheit der Gotik verloren ist, man will es
nicht glauben. Und vielleicht muss man es auch nicht. Vielleicht wird manches Kunstwerk aus
dem Inneren der Kirche nicht zu retten sein oder ist unwiederbringlich verbrannt. Doch das
Kunstwerk der Kirche, die als Bauwerk in seiner langen Geschichte immer wieder erneuert und
erfrischt wurde, muss kein Opfer für immer sein. Stets gab es große, prägende Monumente in der
europäischen Architekturgeschichte, die von Bombenangriffen, Erdbeben, Feuersbrünsten dem
Erdboden gleichgemacht wurden. Und die dann doch aus der Asche wiederauferstanden, im ersten
Moment fremd und nicht dieselben, die sie gewesen waren. Am Ende aber hat ein Bauwerk wie der
Campanile am Markusplatz in Venedig, hat auch die Innenstadt von Danzig dem Vergessen trotzen
können. Am Ende hat man sie neu entstehen lassen, auf verjüngte Weise alt, auf eine die
Zerstörung überwindende Weise ermutigend. Wenn nun Europa in Notre-Dame darniederliegt, von
den Flammen halb verzehrt, heißt das nur, dass Europa sich sammeln, sich trauernd besinnen
muss. Um diesen Gedenkort der eigenen Beflügelung, eine Stätte des Strebens neu zu
beleben.
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