Anfang 2016 habe ich Alexander Gauland für das
ZEITmagazin
porträtiert, damals saß seine Partei, die AfD, in fünf Landesparlamenten. Heute sitzt sie in allen 16. Gauland selbst war Fraktionschef in Brandenburg. Damals dachte wohl niemand, dass er einmal die größte Oppositionskraft im Bundestag anführen würde. Nur dass etwas mit ihm und seiner Partei, mit dem ganzen Land geschehen würde, das kündigte sich schon an. Ich wollte sehen, was sein Aufstieg über Deutschland, über uns, aussagt. Wofür Gauland steht – genau wie bei den anderen sechs Frauen und Männern aus verschiedenen Generationen, sozialen Schichten und Milieus, die ich in meinem Buch
Unter Druck:
Wie sich Deutschland verändert
(erscheint jetzt im Fischer Verlag) beschreibe. In der Biografie eines jeden Menschen spiegelt sich die Welt. Und in jeder Biografie spiegelt sich die Wirklichkeit eines Landes. Anhand von Lebensgeschichten versuche ich, ein Bild der deutschen Gegenwart, von 2013 bis heute, zu zeichnen. Ein Biografiengewebe, in dessen Mittelpunkt sieben Menschen stehen: die junge Influencerin Lisa Banholzer, eine alleinerziehende Krankenschwester, der einstige EZB-Direktor und heutige Investmentbanker Jörg Asmussen, der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland, ein Thüringer Polizist und eine Familie, die um die Erhaltung ihres Mittelklassestatus und mit den Auswirkungen des Dieselskandals kämpft.
Für diesen Text konzentriere ich mich auf einige meiner Begegnungen mit Alexander Gauland und der Influencerin Lisa Banholzer. Die beiden bilden den schärfsten Gegensatz. Er “kann kein Internet”, und sie trat wegen der AfD in die SPD ein. Begegnet sind sie sich niemals. Immer wieder fragte ich mich, ob ich Alexander Gauland mit meiner Beschreibung eine zu große Plattform biete. Andererseits hat kaum jemand Deutschland in den vergangenen Jahren so verändert wie er und seine Partei. Szenen aus einem gespaltenen Land.
Alexander Gauland
Nicht mehr ganz ein Jahr bis zur Bundestagswahl. Es ist schon dunkel, als Alexander Gauland im Dezember 2016 das Stadthaus von Elsterwerda in Brandenburg betritt. Hinter der Bühne warten Sven Schröder, AfD-Landtagsabgeordneter aus der Region, und Andreas Kalbitz, Gaulands Stellvertreter. Die AfD veranstaltet viele dieser Bürgerdialoge in ganz Deutschland, so hält die Partei Verbindung zur Bevölkerung und zu potenziellen Sympathisanten. Im Saal sind etwa 200 Menschen, zwei Sicherheitsmänner wachen vor den Türen. Andreas Kalbitz stellt sich vor: “Ich bin seit 25 Jahren verheiratet, habe drei Kinder, alle mit derselben Frau. Ich war zwölf Jahre Fallschirmjäger.” Nach der Vorstellungsrunde stellt das Publikum Fragen: “Sie sind die Alternative, was ist an Ihrem Kurs anders?” Gauland antwortet: “Die Außen- und Europapolitik. Wir wollen eine andere EU, und wenn es keine andere gibt, müssen wir austreten. Wir wollen den Euro nicht.” Die Grenzen, fordert er, müssten kontrolliert und geschlossen werden. Die Menschen klatschen. Politisch Verfolgte hätten einen Anspruch auf Aufnahme, sagt Gauland, aber dass das deutsche Volk durch die Hintertür verändert werde, lehne die AfD ab. Gauland, Kalbitz und Schröder sprechen von der “Kanzlerdiktatorin” und dem “Altparteien-Kartell”. Wortungetüme, die noch vor wenigen Jahren, vor der AfD-Gründung, kaum gebraucht wurden. Auch weil das Wort “Altparteien” schon Joseph Goebbels als Propagandamittel für die Nationalsozialisten diente.
Die AfD hat es geschafft, die Sprache, den öffentlichen politischen Diskurs zu verändern. Sven Schröder berichtet von zwei “linken Attacken” auf das AfD-Bürgerbüro in Finsterwalde. Die Scheiben seien zu Bruch gegangen. Im Bekennerschreiben hätten die Täter der AfD den Krieg erklärt. Schröder sagt, er gebe den Standort Finsterwalde nicht auf. “Wir müssen uns wehren.” In diesem Ton verläuft die ganze Veranstaltung. Es geht darum, wie Deutschland die vier Jahre nach der kommenden Bundestagswahl mit “dieser Merkel” noch durchhalte. Falls der türkische Präsident Erdoğan “durchdrehe” und die Zuwanderungsintensität so anhalte. Es klingt alarmierend, als sei Deutschland kurz vor dem Ausnahmezustand. Drei Männer, eine Partei, ein Saal in Hysterie. Schließlich steht ein Mann auf und fragt: “Wenn unser Land zerstört wird, ist Widerstand angesagt. Kann man nicht vom Widerstandsrecht Gebrauch machen, wenn Deutschland in Gefahr ist?” Der Mann spielt auf den Artikel 20 im Grundgesetz an, der jedem Deutschen das Recht auf Widerstand einräumt, gegen diejenigen, die die Verfassungsordnung beseitigen wollen.
In diesem Fall meint der Redner nicht Terroristen, Links- oder Rechtsextreme, sondern die Bundesregierung und Kanzlerin Angela Merkel. Es ist nur eine Frage, doch es klingt wie ein Aufruf zum offenen Widerstand, zur Rebellion gegen die gewählte deutsche Regierung. Selbst für die AfD geht diese Forderung weit. Zu weit? Die Redner auf dem Podium schweigen dazu erst einmal. Sie wollen die Fragen sammeln und später darauf antworten. Stattdessen ruft Kalbitz so laut ins Mikrofon, dass es übersteuert: “Die AfD ist die einzige Garantie, dass wir weiter Weihnachten feiern in diesem Land!” Kalbitz spricht vom “DDR-ähnlichen Asozialdemokraten-Kartell”, das es aufzubrechen gelte, von den sexuellen Übergriffen zu Silvester in Köln, vom Mord an einer Freiburger Studentin durch einen afghanischen Flüchtling. Wenn man ihm eine Weile zuhört, gewinnt man den Eindruck eines völlig dysfunktionalen Staates, der kurz vor dem Ausbruch eines Bürgerkrieges steht.
Ein weiterer Mann erhebt sich: “Ich arbeite 12 bis 14 Stunden jeden Tag und bekomme 1200 Euro. Ich habe drei Kinder. Wenn ich zu Hause bleiben würde, würde ich das Gleiche kriegen. Man muss die Gehälter anheben, damit ich vernünftig leben kann!”
Eine durchaus legitime Forderung. Doch auf Fragen wie diese nach Gehältern, Altersarmut, der Kluft zwischen Arm und Reich hat die AfD auch drei Jahre nach ihrer Gründung weder Antworten noch Konzepte.
Wieder steht ein Mann auf: “Eine Frage an Doktor Gauland. Ist der Islam eine Religion oder eine Ideologie?” Der Mann erklärt, dass sich die Muslime in den nächsten Jahren um fünf bis zehn Millionen vermehren würden, während die Deutschen sich bis 2030 auf 70 Millionen reduzierten.
Gauland antwortet: “Der Islam ist leider beides, er enthält die Scharia, die nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.” Dann zitiert er Ajatollah Chomeini, den verstorbenen iranischen Religionsführer: “Wenn der Islam nicht politisch ist, ist er nichts”, und den türkischen Präsidenten Erdoğan: “Die Demokratie ist nur ein Zug, auf den wir aufspringen, bis wir am Ziel sind.” Es sind Zeilen aus einem Gedicht, das Erdoğan in einer Rede 1997 zitierte, damals war er noch Bürgermeister von Istanbul. Diese beiden Zitate führt Gauland in fast allen seiner öffentlichen Auftritte an, sie klingen in der Tat furchteinflößend und sollen unterstreichen, wie gefährlich der Islam ist. Zugleich betont Gauland auch immer, Muslime sollten ihrem Glauben nachgehen können, aber nicht durch eine Masseneinwanderung politisch oder kulturell prägend werden. “Je stärker die AfD wird, desto mehr islamkritische Dinge werden wir umsetzen”, sagt Gauland.
Eine Religion wird zur Kampfzone. Es geht um Schwimmunterricht, Schweinefleisch und Weihnachtsmärkte. “Deutsche Leitkultur”, wie Andreas Kalbitz sagt. Und natürlich geht es eigentlich um viel mehr. Gauland vermutet hinter Formulierungen Angela Merkels wie “Menschen, die schon länger hier leben” eine geheime Agenda. Weil sie nicht von “den Deutschen” spreche. Die Kanzlerin wolle das deutsche Volk Stück für Stück abschaffen und die deutsche Identität durch ein diffuses Multikulti ersetzen. “Das werden wir nicht zulassen!”, ruft er nun in den Saal. Niemand widerspricht, keiner hinterfragt. Der Saal skandiert: “Merkel muss weg!” Die Stimmung ist sehr aufgeheizt. Es bleibt der Eindruck, dass vor wenigen Jahren eine solche Veranstaltung, die sich sehr eindeutig gegen eine Religionsgemeinschaft und deren Angehörige richtet, noch nicht möglich gewesen wäre.
Am Ende geht Gauland doch noch auf die Frage des Widerstandsrechts ein. Er könne die Sorge um Deutschland verstehen, sagt er, man könne eine Demokratie aber nicht von heute auf morgen verändern. “Ich sehe nicht die Verfassung in Gefahr, die Grundrechte funktionieren noch. Ich bin da vorsichtig, durch das Grundgesetz wird auch die AfD geschützt. Der Rechtsstaat schützt uns. Von Widerstandsrecht sollte man nicht reden und es nicht anwenden.” Man merkt Gauland an, dass ihm diese Frage unangenehm ist. Der Umsturz fällt vorerst aus.
Offenbar gibt es inzwischen nicht wenige Menschen in Deutschland, die in ihrer gewählten Regierung eine Gefahr, gar einen Feind sehen, gegen den sie, wenn nötig, mit Gewalt aufbegehren müssen.
Später steigt Alexander Gauland die Treppen in den Keller hinab, dort im Restaurant trifft sich der AfD-Kreisverband noch zum Essen. Einer der Männer erzählt von seinem Sohn und der Schwiegertochter, die beide nach Berlin gezogen seien. Nun könne man mit ihnen nicht mehr über Politik reden, die Familie lasse dieses Thema jetzt aus. “In 30 Jahren werden sie sagen, wir hatten recht”, glaubt der Mann. Gauland fällt ihm ins Wort: “Das kann ich nicht verstehen! Dass Sie nicht mehr miteinander sprechen.” Seine Tochter denke politisch auch ganz anders als er, trotzdem sehe sie in ihm ihren lieben Vater. Daraufhin verstummt der Mann sofort.
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