Jugendliche sind immer online, körperlich frühreif und neuerdings
politisch aktiv? Wir fragen, was es für junge Menschen bedeutet, sich
heutzutage einen Platz in der Welt zu suchen, und blicken in einem Schwerpunkt auf die wahrscheinlich emotionalste Zeit des Lebens: die Pubertät.
Bürgermeister, Firmenchefinnen, Lehrer: Viele Menschen gehen offen damit um, dass sie homosexuell sind. Lesben und Schwule heiraten und haben Kinder. Ein Coming-out sollte doch auch für Jugendliche heute einfacher sein als früher. Aber viele junge Schwule und Lesben trauen sich jahrelang nicht, ihren Freunden oder ihrer Familie davon zu erzählen.
André zum Beispiel lebt in zwei Welten. Die eine teilt er mit Jugendlichen, die ähnlich fühlen wie er, hier ist er glücklich. In der anderen, seiner Hamburger Stadtteilschule, erzählt er niemandem mehr, dass er schwul ist. “In der Schule beiße ich die Zähne zusammen.” Bis heute sei “Scheißschwuchtel” die beliebteste Beleidigung unter den Jüngeren, sagt er. André muss nur noch die Abiturprüfungen bestehen, dann ist seine Schulzeit vorüber. Deshalb ist es ihm egal, wenn seine Klassenkameraden nun diesen Text lesen.
Es ist Freitagabend, das Café und die Gemeinschaftsräume im Keller
des Magnus-Hirschfeld-Centrums (mhc), einer Begegnungsstätte für
Homosexuelle, Transpersonen und Queere in Hamburg, werden voller. Immer
freitags treffen sich hier Jugendliche, fläzen sich auf die alten Sofas
und Sessel, kickern, trinken was, reden. Für viele von ihnen ist das
Zentrum eine wichtige Adresse. André sagt: “Seit ich vor etwa einem Jahr
das mhc entdeckt habe, geht es für mich bergauf.”
Ein Zwölftklässler hat ihn beschimpft und über ein Geländer geworfen
André ist ein schmaler, sanftmütiger Typ. Sein langer Pony fällt
ihm schräg in die Stirn. Er sei so jemand, sagt er, dem andere ihre Probleme erzählen. André spricht ruhig und überlegt. Und er
schreibt Gedichte, meistens sind es traurige.
Und ich fühle mich so unbekannt.
Falsch
verstanden und allein gelassen.
Meilen entfernt von Gnade.
Aber niemand
weiß es bis jetzt …
Als er in der sechsten Klasse war, hat ein Zwölftklässler ihn als
Schwuchtel beschimpft, über ein Geländer geworfen und ihn dabei am Kopf
verletzt. André hat deshalb die Schule gewechselt.
Kurz vor dem mittleren Abschluss vertraute er sich auf der neuen Schule seinem besten Freund an und machte wieder eine schlimme Erfahrung: Der Freund erzählte es der ganzen Clique, daraufhin haben ihn die ehemaligen Freunde auf WhatsApp geblockt. Er passe irgendwie nicht mehr dazu, hat ein Mädchen gesagt. André verlor seinen Freundeskreis. Und erzählte in der Schule niemandem mehr von seiner sexuellen Orientierung.
Jugendliche fragen sich früher, ob sie homosexuell sein könnten
Weil offener über Homo- oder Transsexualität gesprochen wird, stellen sich Kinder und Jugendliche heute deutlich früher die Frage, ob sie selbst schwul, lesbisch, bi oder trans sein könnten als noch vor zehn Jahren. Aber, sagt Stefan Timmermanns, das mache es nicht unbedingt einfacher. Timmermanns ist Professor für Sexualpädagogik und Diversität in der Sozialen Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und er sagt, noch immer fürchteten sich viele Jugendliche vor Ausgrenzung und Anfeindung.
André hat auch zu Hause lange nicht darüber gesprochen. Als sie sich trennten, brüllte der Vater die Mutter an: “Du hast unseren Sohn zur Schwuchtel erzogen.” Da war André 13. Bis heute stachele der Vater immer wieder: “Wird aber Zeit, dass du mal eine Freundin mitbringst.” Das Verhältnis zur Mutter ist vertrauensvoller, doch auch ihr hat André lange nichts erzählt. Erst vor Kurzem hat er sich ihr gegenüber geoutet. Die schöne Überraschung: Sie hat kein Problem damit. Sie hatte es längst geahnt.
Seit
er Freunde außerhalb der Schule hat, denen er alles erzählen kann,
verfliege auch seine traurige Stimmung immer schneller, sagt André. Er freut sich auf
die Zukunft. Vielleicht will er etwas aus seiner
Begabung, sich in andere einzufühlen, machen. Psychologe werden.
Vielleicht will er aber auch zur Bundespolizei.
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