Die
Europäische Union lebte jahrzehntelang in dem Gefühl, sie sei die
beste aller Welten. Mögen andere Kriege führen, die Europäer haben
die Zauberformel für den ewigen Frieden gefunden. Wohlstand und
Freiheit gab es für die Bürger der Union quasi als
Selbstverständlichkeit dazu. Wer Zweifel an der Überlegenheit der
EU hegte, wurde auf die lange Liste von Staaten verwiesen, die
Mitglied werden wollten. Sie reichte von der Ukraine über die
Westbalkan-Staaten bis zur Türkei.
Diese
europäische Selbstgewissheit ist scheinbar dahin. Zuerst wurde sie
von Eurokrise erschüttert, dann vom Krieg in der Ukraine, und
schließlich kam der ganz große Schlag: der Brexit. Am 23. Juni 2016
entschied eine Mehrheit der Briten, dass ihr Land die EU verlassen
sollte. Ausgerechnet Großbritannien, die älteste parlamentarische
Demokratie der Welt, wollte aus der Union austreten.
Es war ein
Schock, der zu einer Erkenntnis führte: Nichts an der EU ist mehr
selbstverständlich, nichts an ihr ist evident, alles steht zur
Disposition. Auch ihre Existenz. Sie musste kämpfen lernen, wenn sie
nicht untergehen wollte, sie musste geschlossen, entschieden und hart
sein. Das war sie bis zum 10. April 2019 – bis sie Großbritannien
eine Verlängerung gewährte.
Brüssels Kompromisse machen mürbe
Diese
Entscheidung ist das Ergebnis eines typischen EU-Reflexes. Konflikte
werden nicht durch einen Zusammenstoß auf offenem Feld entschieden,
sie werden kleingemahlen und wegverhandelt, man bleibt so lange am
Tisch sitzen, bis alle einem Kompromiss zustimmen, und sei es aus
purer Erschöpfung. Die Brüsseler Kompromissmaschine hat schon die
härtesten Krieger mürbe gemacht.
Die
Verlängerung des Brexits folgt dieser Logik. Kommt Zeit, kommt Rat,
kommt Einsicht. In ihr schimmert die alte Selbstgewissheit der EU
durch: Die Briten brauchen nur noch etwas Zeit zum Nachdenken, bis
sie merken, wie dumm ihre Entscheidung war, dann werden sie ein
zweites Referendum abhalten und sich für den Verbleib in der Union
entscheiden.
Niemand
sagt das offen, aber viele in Brüssel hoffen das, einige glauben es.
Die gütige Mama EU wird dann die reuigen Briten wieder aufnehmen wie
verlorene Söhne und Töchter, die sich kurzzeitig im Irrgarten des
Populismus verlaufen haben. Die Hoffnung stützt sich auf der
Annahme, dass die Kräfte, die in Großbritannien am Wirken sind,
sich bändigen lassen. Man muss ihnen nur Raum und Zeit geben, sich
auszutoben. Doch diese Hoffnung ist trügerisch.
Es
lässt sich mit abschließender Gewissheit nicht sagen, doch die
letzten drei Jahre legen den Schluss nahe, dass die britische
Demokratie, wie wir sie kennen, den Weg der Selbstzerstörung
beschritten hat. Die Brexiteers haben am 23. Juni 2016 eine Lunte
gezündet, die im Lauf der letzten Jahre eine Kette von Explosionen
auslöste.
Die nächste Explosion droht den Tories
Nach
dem Brexit-Entscheid kam der Rücktritt von Premier David Cameron.
Seine Nachfolgerin Theresa May entschied sich für vorzeitige Wahlen,
die sie krachend verlor. Dann verlor sie die Kontrolle über ihre
Partei, dann die Kontrolle über das Parlament, und schließlich
verlor das Parlament die Kontrolle über den gesamten Brexit-Prozess.
Und die nächste Explosion kann man schon hören, sie wird vermutlich
die Tories zerreißen.
Die
Lunte brennt also munter weiter – und die Sprengsätze, die sie noch zünden könnte, stehen auch auf dem europäischen Festland. Die Europäische Union hat
nicht die Kraft gefunden, die britische Lunte zu kappen.
Theresa
May musste ihren Kollegen im Rat versprechen, dass Großbritannien
bis zum 31. Oktober die Entscheidungen der EU nicht torpedieren wird.
Das klingt ganz gut, ist aber ziemlich naiv. Theresa May ist schwach
und könnte sehr bald stürzen. Was ist, wenn dann
Boris Johnson britische Premier wird? Gewiss, die EU kann am 31.
Oktober den Stecker ziehen. Doch bis dahin könnte Johnson einigen
Schaden anrichten.
Und Johnson ist vielleicht nur das kleinere Problem. Das
größere: Was geschieht, wenn die Briten bis zum 31. Oktober noch
immer nicht so weit sind und weiter in ihrem Irrgarten hocken und
sich streiten?
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