Neben der Tanzfläche haben gerade drei Pärchen Sex. Die Menschen um sie herum tragen hautenge Lackanzüge oder schmücken sich mit Federn und Glitzer, manche sind komplett nackt, andere lassen sich an Leinen durch den Club führen. Besucher des Berliner Fetischclubs Kitkat müssen neben Telefonen auch Vorurteile und Schamgefühl an der Garderobe abgeben.
Es ist vier Uhr morgens, Annie O. steht hinter dem DJ-Pult des Clubs. Um ihren Oberkörper schmiegt sich ein Korsett aus drei schmalen Riemen, Pasties kleben auf ihren Brustwarzen, die schwarze Hose verdeckt das Nötigste. Sie schaut in die Menge und drückt den Knopf, der den Bass einsetzen lässt, die Menge wirft die Arme in die Luft und fängt an zu tanzen. Annie O. liebt diese Momente. Für sie hat sie ihr Leben als Investmentbankerin in London eingetauscht, in dem sie Bluse und Blazer trug, mit Anleihen und Unternehmenskrediten handelte und 100.000 Euro im Jahr verdiente.
Annie O. heißt im richtigen Leben Anne-Kathrin Oelmann und ist 34 Jahre alt. Sie wuchs in Dortmund auf, in einem Maisonette-Haus aus roten Backsteinen, mit hohen Fenstern und einem großen Garten. Ihr Vater war Arzt, die Mutter Lehrerin. Ihnen war wichtig, dass ihre Kinder einen guten Eindruck machen. Mit fünf Jahren bekam Oelmann ihre ersten Klavierstunden, beherrschte Mozart, Bach, Beethoven. Sie ging in eine kirchliche Jugendgruppe, in den Turn- und den Schwimmverein und spielte im Tennisclub, in dem ihre Eltern sich kennengelernt hatten. Nie vergaß sie ihre Hausaufgaben, die Schule fiel ihr leicht.
Oelmanns Vater arbeitete die meiste Zeit in der Klinik, die am Ende der Straße lag. Ihr Bruder war schon einige Jahre zuvor ausgezogen, als ihre Mutter ein Burn-out erlitt. Die Tochter begann, für sich selbst zu sorgen, ihre Bedürfnisse hintenanzustellen, um ihre Mutter nicht zu überfordern. “Ich war wie unsichtbar”, sagt sie. Ihr Abitur schloss sie trotzdem als Zweitbeste der Schule ab.
Die einzige Frau unter 15 Männern
Freitagabend, ein Uhr nachts, drei Stunden bis zu Annie O.s Auftritt. In einem pompösen Pelzmantel mit Leopardenmuster läuft Annie O. an der Schlange des Clubs vorbei, die Besitzerin öffnet ihr wortlos die Tür. An der Garderobe, an der neben Jacken auch Hosen, Oberteile und Unterwäsche abgegeben werden, zieht auch Annie sich aus.
Mit 18 begann Anne-Kathrin Oelmann an der Koblenzer Privatuniversität WHU Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Die Studiengebühren von 7.000 Euro pro Jahr übernahmen ihre Eltern. Für den Tag der offenen Tür hatte sie sich extra den silbernen Audi ihrer Mutter ausgeliehen, obwohl sie selbst schon ein Auto besaß: “Mit meinem roten Golf 3 hätte ich mich dort nicht hingetraut”, sagt sie. Unter ihr Foto im Jahrbuch schrieb Oelmann ein Zitat des Literaturkritikers Marcel Reich-Ranicki: “Geld allein macht nicht glücklich, aber es ist besser, in einem Taxi zu weinen als in der Straßenbahn.”
Mit 21 machte sie ein Praktikum bei der Investmentbank Merrill Lynch in London. Sie arbeitete mindestens zwölf Stunden am Tag, verließ morgens vor ihren Mitbewohnern das Haus und kam nach ihnen zurück, setzte sich unter Druck, alle Erwartungen zu übertreffen. Direkt nach dem Praktikum bekam sie eine Festanstellung bei der Bank, Einstiegsgehalt: 100.000 Euro im Jahr. Sie war die Jüngste im Team und die einzige Frau unter 15 Männern. Endlich hatte sie es geschafft. Sie war an der Spitze angekommen.
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