Seit einigen Wochen wird von nicht wenigen – ich denke etwa an Thomas
Krüger, Jana Hensel unlängst in der
ZEIT
oder Cerstin Gammelin in
der
Süddeutschen Zeitung
– eine “Ost-Quote” gefordert. Die öffentliche Diskussion ist
wichtig. Zugleich hadere ich mit dem Vorschlag.
Zunächst stört mich die selbstsichere Diagnose. Da ist oft von einem 1,7-prozentigen Anteil der Ostdeutschen an den bundesdeutschen Eliten die Rede. Woher kommt diese kommagenaue Zahl? Worauf bezieht sie sich? Wie seriös ist diese Angabe? In den meisten Artikeln werden diese Fragen nicht gestellt. Die Zahl thront lapidar über der Argumentation, ohne dass die Angabe nachgewiesen würde. Fakt ist, erstens, dass es keine validen empirischen Befunde zur gegenwärtigen Zusammensetzung der bundesdeutschen Eliten gibt, einschließlich der Frage nach der Ostherkunft. Die letzte repräsentative Erhebung stammt aus dem Jahr 1995. Die Information, dass der Anteil Ostdeutscher an den deutschen Eliten bei nur 1,7 Prozent liege, wurde offenkundig der Studie
Wer beherrscht den Osten?
von Michael Bluhm und Olaf Jacobs aus dem Jahr 2016 entnommen. Deren Recherche beschränkt sich aber auf einige, wenn auch wichtige Sektoren – und darin auf eine drastische Auswahl an Elitepositionen. So werden im Sektor der Politik allein die Mitglieder der Bundesregierung einbezogen. Oder in der Wirtschaft nur die Vorstände der Dax-Konzerne.
Fakt ist daher, zweitens, dass diese Recherche zwar eine Tendenz aufzeigt, die von anderen Teilerhebungen bestätigt wird; sie entspricht aber nicht wissenschaftlichen Qualitätsstandards. Dafür sind es zu wenige und nur selektive Elitepositionen, die erfasst wurden. Dass sich Bluhm und Jacobs zur Nennung eines kommagenauen Anteils Ostdeutscher in den Eliten auf Bundesebene hinreißen lassen, bleibt insofern nicht nachvollziehbar und muss fast amüsieren. In Rücksicht auf die bisherigen Einzelbefunde und insofern mit gehörigem Mut lässt sich bestenfalls formulieren: Sektorenübergreifend bewegt sich der Anteil Ostdeutscher in der Top-Elite der Bundesrepublik, das heißt für die absoluten Spitzenpositionen, wahrscheinlich im Bereich von zwei bis vier Prozent. Für die gesamte Elite, die etwa 4000 bis 6000 Positionen umfasst, dürfte der Anteil Ostdeutscher sechs bis neun Prozent betragen. Der Sprung von 1,7 Prozent zu sechs bis neun Prozent ist keine Quantité négligeable. In dem einen Fall gäbe es Ostdeutsche nur als Exoten in den Eliten, im anderen wären sie eine signifikante Minderheit – auch wenn zu den etwa 17 Prozent Bevölkerungsanteil ein deutlicher Abstand bleibt, der ein gesellschaftspolitisches Problem markiert. Angesichts dessen sollte vorsichtig formuliert werden. Das leitet zum nächsten gravierenden Problem über, der Forderung einer verbindlichen Quote für Ostdeutsche in der Besetzung von Elitepositionen, die sich nicht nur als Verdachtstherapie, sondern mehr noch als Fehltherapie erweist.
Verdachtstherapie, weil eine Mindervertretung an sich (noch) kein Argument für eine Quotierung darstellen kann. Denn deren Funktionieren setzt zweierlei voraus: erstens, dass die Ostdeutschen wie die Westdeutschen in die Eliten aufsteigen und Karriere machen wollen. Zweitens, dass es identifizierbare Mechanismen gibt, die Westdeutsche systematisch bevorteilen und Ostdeutsche benachteiligen. Weder das eine noch das andere ist umfassend sozialwissenschaftlich analysiert. Um nicht missverstanden zu werden: Ich sage nicht, dass diese beiden Voraussetzungen falsch oder gar absurd sind. Ich sage nur, dass sie Unterstellungen bleiben, solange sie nicht empirisch nachgewiesen sind.
Dabei liegen für die zweite Annahme einer systematischen Benachteiligung Ostdeutscher nicht nur anekdotische Evidenzen, sondern durchaus empirische Befunde und komplexere Erklärungsansätze vor. Allerdings beziehen sich die meisten Datensammlungen und gesicherten Erkenntnisse auf die Neunzigerjahre. In dieser Zeit waren Benachteiligungen anhand geforderter Qualifikationen oder Berufserfahrungen weit verbreitet, über die Ostdeutsche nicht verfügen konnten – etwa in Bundesbehörden, im Topmanagement oder in der Rechtsprechung. Seitdem hat sich einiges geändert – Machtkalküle westdeutscher Eliten haben sich verschoben, neue Generationen Ostdeutscher mit veränderten sozialen Herkünften sowie Qualifikationen schicken sich an aufzusteigen. Das muss nicht das Ende der Marginalisierung bedeuten. Es braucht aber neue, breite Analysen und nicht nur alte Daten und fortgeschriebene Verdachtslogiken.
Wieso aber Fehltherapie? Die Antwort ist einfach: Eine Quotierung bei der Besetzung von öffentlich-rechtlichen Elitepositionen, die, wie es Antje Hermenau unlängst knackig vorschlug, für die Bundesebene 20 Prozent betragen könnte und für Ostdeutschland 55 Prozent, hat nicht nur mit den bekannten Problemen jedweder Quotenbesetzungen zu ringen. Der fundamentale Einwand gegen eine Ost-Quote im Jahr 2019 besteht in der Unmöglichkeit, juristisch handhabbar zu entscheiden, wer heute ostdeutsch ist. Das fängt mit all den Menschen an, die vor 1989 aus der DDR in die Bundesrepublik flohen. Wie sollen sie kategorisiert werden? Was ist mit den Millionen, die nach dem Mauerfall zwischen Ost und West wanderten, nicht wenige sogar mehrfach? Sind Westdeutsche, die nach 1990 in die neuen Länder gingen, bereits am ersten Tag der Ankunft Ostdeutsche oder erst nach fünf Jahren oder nach zwanzig oder nie? Und was ist mit deren Kindern, wenn sie nach ihrem 18. Lebensjahr in die alten Bundesländer studieren oder arbeiten gingen, dort blieben oder zurückkehrten?
Es reichen bereits wenige Überlegungen, um sicher festhalten zu können, dass der Therapievorschlag einer Ost-Quote im Jahr 2019 nicht nur aus sozialer Perspektive mehr und mehr an den Realitäten unserer Gesellschaft vorbeiläuft. Was Anfang der 1990er-Jahre vielleicht rechtlich möglich gewesen wäre: Heute ist es juristisch unhaltbar. Die Ost-Quote hieße daher, ein
ius sanguinis,
eine Art Blutrecht wiederzubeleben. Ostdeutsch wäre dann, wer von einer DDR-Bürgerin oder einem DDR-Bürger abstammt. Wer will das, wer kann das politisch wollen? Unabhängig vom Wollen erscheint es evident, dass es keine rechtssichere Regelung des Status “Ostdeutscher” jenseits des Wohnortsprinzips geben kann. Wendeten wir aber dieses an, kämen potenziell Zigtausende in Westdeutschland geborene, dort aufgewachsene und bestens vernetzte Menschen in den Genuss der Quotenförderung, weil sie in Leipzig, Potsdam oder Jena wohnen – vielleicht erst seit drei Tagen. Zugleich wären Hunderttausende Ostdeutsche, die jetzt in den alten Bundesländern leben, ausgeschlossen. Beides widerspricht der Intention der die Quote Fordernden. Martin Machowecz hat vor Kurzem in der
ZEIT
darauf hingewiesen, dass selbst die “lässigste”, das heißt eine am Wohnort orientierte Quote “noch gewaltige Effekte” hätte. “Gewaltige Effekte” könnte sie aber vor allem für die sogenannten Wossis haben. Wäre das wirklich besser als keine Quote?
Gibt es zur Ost-Quote Alternativen? Ich denke ja. Vor allem sollten die Ostregionen darin unterstützt werden, ihre Entwicklungspotenziale zu erkennen. Gesamtgesellschaftlich geachtete Entwicklungserfolge im Osten befördern Selbstanerkennung, individuelle Leistungsbereitschaft und Wertschätzung durch Dritte; auch im Westen. Das kann durch gezielte Karriereförderungen Benachteiligter – auch von Menschen ohne Ostherkunft – untersetzt werden.
Die geringeren objektiven Chancen verdanken sich auch der Stigmatisierung des Ostens und der Ostdeutschen in den Diskursen nach 1990 als zurückgebliebene, verlorene, hilfebedürftige Gebiete oder Gruppe. Auch wenn sich das seit etwa 2005 ändert, brauchen wir weiter eine Transformation dieser Diskurse. Eine politische Reflexion der Probleme gehört zu einer längerfristigen Lösung.
Demgegenüber würde mit der Ost-Quote – ich spitze zu – eine einfache Lösung für ein hochkomplexes Problem angeboten, die zurückblickt, die womöglich gerichtlich suspendiert würde und die daher bestenfalls neue Enttäuschungen gegenüber den Eliten zu produzieren vermag. Das wird junge Ostdeutsche nicht ermuntern, selbst Teil dieser gesellschaftlichen Führungsgruppen werden zu wollen.
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