Das Versprechen war riesig. Genau wie die
ethischen Konsequenzen. Der renommierte Hirnforscher Niels Birbaumer behauptete
vor einigen Jahren, einen Apparat gebaut zu haben, der schier Unglaubliches vollbrachte:
Menschen, die aufgrund einer Nervenkrankheit vollständig gelähmt sind, an
einer Beatmungsmaschine hängen und nicht einmal mehr die Augen bewegen können, wieder
mit ihrer Außenwelt kommunizieren zu lassen. Alles, was es dafür brauche, seien
Sensoren an der Kopfhaut, die mittels Infrarotmessung den Blutfluss des Gehirns
messen, und einen Computer, der ihre Signale analysiere, sprich ein Ja und Nein aus
ihnen mache.
Nun aber stehen Birbaumers Ergebnisse infrage. Ein junger
Informatiker hat versucht, die Ergebnisse einer von Birbaumers Publikationen
nachzurechnen – ohne Erfolg. Seine Schlussfolgerung: Die Maschine funktioniere
womöglich nicht. Das Magazin
der Süddeutschen Zeitung berichtete, die
Universität Tübingen leitete eine Untersuchung ein. Was ist geschehen?
Mit Hirnströmen Wörter buchstabieren
Niels Birbaumer wurde 1945 geboren und mit 29 zum
Professor ernannt. Er gilt als einer der bekanntesten Psychologen und Hirnforscher
Deutschlands, seine wissenschaftliche Karriere ist eindrucksvoll. Um die
Jahrtausendwende begann er, sich intensiv mit Gehirn-Computer-Schnittstellen zu
beschäftigen, Maschinen also, die Hirnströme oder andere Signale ableiten und diese
in Informationen umwandeln (Psychological Bulletin:Kübler et al., 2001). Diese Geräte
sind weit gediehen: So können Menschen allein mit ihren
Hirnströmen Wörter buchstabieren oder Bilder malen (Brain Sciences:Rezeika et al., 2018). Immer wieder
stießen Forscherinnen und Forscher dabei jedoch an eine Grenze: Menschen im sogenannten Completely Locked-In State
(CLIS), dem Zustand völliger Lähmung.
Bei Menschen, die an Amyotropher Lateralsklerose
(ALS) leiden, einer Krankheit, bei der die motorischen Nervenzellen absterben
und die zur vollständigen Lähmung führt, funktionieren Gehirn-Maschine-Schnittstellen
lange Zeit noch recht gut. Sobald aber die Augenmuskeln aussetzen und die
Menschen damit in den CLIS eintreten, hört es damit auf. Warum, darüber gibt es
nur Spekulationen (Clinical Neurophysiology: Kübler & Birbaumer, 2008). Fakt
ist, dass diese Menschen, die an einer Beatmungsmaschine hängen – auch die Atemmuskulatur
ist gelähmt –, nicht mehr kommunizieren können.
Patientin sollte “Ja” oder “Nein” denken
Birbaumer wollte das nicht
akzeptieren. Er suchte nach Patienten, bei denen gerade erst die Augenmuskeln
ausgesetzt hatten, und entwickelte seine Technik weiter. 2014 dann
veröffentlichte seine Arbeitsgruppe eine Fallstudie, die den Erfolg der
Hirn-Computer-Schnittstelle anhand einer einzigen Patientin belegte. Man hatte
der Frau Fragen gestellt und sie gebeten, Ja oder Nein zu denken, während die
Infrarotsensoren den Blutfluss in verschiedenen Teilen des Gehirns maßen. Weil
man unter anderem Fragen gestellt hatte, auf die sie die Antwort wusste (“Sind
Sie in Hamburg geboren?”), konnte man prüfen, ob der Apparat funktionierte. Das
Ergebnis: Ja, er funktionierte! (Neurology: Gallegos-Ayala et al., 2014)
Drei Jahre später dann folgte die Studie, die
der endgültige Beweis sein sollte – und die die jetzige Kontroverse um Birbaumer
auslöste. Diesmal wurden vier Patientinnen und Patienten
getestet. Wieder zeigte sich: Mit Birbaumers Apparat konnten die Gelähmten
auf Ja-Nein-Fragen antworten (Plos
Biology: Chaudhary et al., 2017). Das Medienecho war gewaltig, die Nachrichtenagentur dpa schrieb: “Kopfhaube kann die Gedanken vollständig
gelähmter Menschen lesen”, der britische Guardian nannte die Ergebnisse “bahnbrechend”,
und in der ZEIT war die Rede von einer “revolutionären Methode”. Birbaumer wurden Fernsehsendungen gewidmet. Verzweifelte
Familien, die vollständig gelähmte Angehörige hatten, riefen ihn an und
schrieben ihm.
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