Das Rennen zwischen den großen Parteienfamilien bei der Europawahl könnte angesichts der Brexit-Verlängerung wieder eng werden. Die mögliche britische Beteiligung an der Wahl Ende Mai bringt dem linken Lager im Europaparlament eventuell zusätzliche Stimmen und könnte damit die Chancen des Niederländers Frans Timmermans auf die Nachfolge des amtierenden EU-Kommissionschefs Jean-Claude Juncker erhöhen.
Der Umfragen-Webseite „Poll of Polls“ zufolge, in der nationale Umfrageergebnisse mit Blick auf die Europawahl zusammengefasst werden, kann die Labour-Partei mit 23 Mandaten im neuen Europaparlament rechnen. Die Labour-Vertreter würden die Fraktion der Sozialisten verstärken, deren europäische Parteienfamilie den derzeitigen Juncker-Stellvertreter Timmermans bei der Europawahl ins Spitzenkandidaten-Rennen um den Posten des Kommissionschefs schickt.
Zwar ist noch nicht ganz sicher, ob die Briten bei der Europawahl tatsächlich dabei sind. Aber diese Option ist zunehmend wahrscheinlich, nachdem die Staats- und Regierungschefs der verbleibenden 27 EU-Staaten in der zurückliegenden Woche die Verschiebung der Brexit-Frist bis Ende Oktober beschlossen hatten.
Weber will Juncker beerben – das wird zum Kraftakt
Den Umfrageergebnissen zufolge würde im neuen Europaparlament, das sich im Juli konstituiert, die konservative EVP-Fraktion mit 176 Mandaten erneut zur stärksten Kraft. Die Sozialisten würden mithilfe der Labour-Partei auf 154 Sitze kommen. Nach dem Spitzenkandidaten-Verfahren benötigt der künftige Kommissionschef die Mehrheit der Mandate im Europaparlament.
Als aussichtsreichster Kandidat gilt der EVP-Spitzenkandidat Manfred Weber (CSU). Allerdings steht er vor mehreren Herausforderungen: Zum einen muss er die Sozialisten bei der Europawahl auf Abstand halten. Zweitens braucht er im Europaparlament die Stimmen der Liberalen – aber die sind noch nicht entschieden. Und drittens werden auch dem EU-Chefverhandler bei den Brexit-Gesprächen, dem Franzosen Michel Barnier, Ambitionen auf den Chefposten in der EU-Kommission nachgesagt.
Zur Frage, ob die Briten lieber doch noch vor der Wahl aus der EU austreten sollten, gibt es unterschiedliche Auffassungen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sagte, es wäre „am besten, wenn es nun rasch, das heißt vor den Wahlen Ende Mai, zu einer konstruktiven Mehrheit im britischen Parlament für einen Austrittsvertrag käme“. In der „Süddeutschen Zeitung“ warnte er vor einem „Schrecken ohne Ende“.
Der Grünen-Spitzenkandidat für die Europawahl, Sven Giegold, sieht dagegen eine britische Teilnahme an den Europawahlen eher als eine Chance. Die Wahlen würden „eine Mobilisierung der Proeuropäer in Großbritannien sehen, wie wir sie bisher nicht erlebt haben“, sagte Giegold im Deutschlandfunk. Es könne sogar sein, dass dadurch „eine positive Dynamik weg vom Brexit entsteht“. Bereits jetzt seien die Befürworter eines harten Brexit die klaren Verlierer der jüngsten Entwicklungen, sagte Giegold weiter.
870.000 Euro Spenden für die Brexit-Partei
Das britische Ergebnis bei einer möglichen Teilnahme an der Europawahl ist unterdessen schwer kalkulierbar. Anders als bei den Unterhauswahlen gilt auf der Insel bei der Entscheidung über das Europaparlament in Straßburg das Verhältniswahlrecht. Dies gibt kleineren Parteien größere Chancen. So könnte die neu gegründete Brexit-Partei von Nigel Farage, der sich bei der Europawahl für eine klare Trennung zwischen Großbritannien und der EU einsetzen will, stark abschneiden.
Bei der letzten Europawahl im Jahr 2014 hatte Farage – damals noch mit der Ukip-Partei – die Nase in Großbritannien vorn. Diesmal war Farage zumindest der Erste, der auf der Insel in den Wahlkampf startete. Am Freitag forderte er im englischen Coventry eine „Revolution“ in der britischen Politik. Finanziell scheint die Partei gut ausgestattet zu sein. Nach den Angaben von Farage hat die Brexit-Partei in den vergangenen zehn Tagen Spenden in Höhe von 750.000 Pfund (870.000 Euro) erhalten. (mit AFP)
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