Als Julian Assange von britischen Polizeibeamten aus der ecuadorianischen Botschaft in London getragen wurde, Kopf voran, da wirkte er wie eine Figur aus einer anderen Zeit, wie eine Erinnerung an eine vergangene Epoche. Es hatte schon länger keine aktuellen Fotos mehr von ihm gegeben, deshalb mussten die äußerlichen Veränderungen Assanges ohnehin überraschen, womöglich schockieren, der wilde Vollbart, die langen Haare, die Zeichen des Alterns. Assange schien der Welt etwas verloren gegangen zu sein in den vergangenen Jahren nach seinem Rückzug, und das betraf nicht nur die öffentlichkeitswirksamen Bilder von ihm.
Im Mai 2017 war er noch mal in Bikerjacke auf dem kleinen Austritt der Botschaft erschienen, die Haare getrimmt, die Miene siegesgewiss, die rechte Hand zur Faust geballt. So begrüßte er damals die Einstellung der Ermittlungen, die in Schweden gegen ihn gelaufen waren wegen möglicher Sexualstraftaten. Ein britischer Haftbefehl gegen ihn wegen Verstoßes gegen Kautionsauflagen blieb auch später bestehen, darum blieb er in der Botschaft.
Die Isolation, in die sich der Gründer der Enthüllungsplattform WikiLeaks bereits im Jahr 2012 mitten in einer der belebtesten Großstädte der Welt freiwillig begeben hatte, um einer möglichen Verhaftung zu entgehen, schien zuletzt zuzunehmen. Assange hatte sich über die Jahre in einen Geist verwandelt, und an einen Geist erinnerte er äußerlich, als er nun ans Licht gezerrt wurde. Die entscheidende Frage scheint jetzt, da der WikiLeaks-Chef zunächst in britischem Gewahrsam ist: Hat er, hat seine Organisation die Welt eigentlich bleibend verändert – oder ist die längst über Assange und WikiLeaks hinweggegangen?
Anderthalb Jahre ist es her, dass das letzte wirklich große Porträt über Assange in einem bedeutenden Medium erschienen ist, im New Yorker. “Julian Assange, a Man Without a Country” hieß der Text, und sein Autor Raffi Khatchadourian beschrieb darin einen Mann, der seinen selbst gewählten Kampf unbeirrt fortzusetzen schien. Doch es war längst schon nicht mehr klar, ob dieser Kampf selbst nicht bereits eine Fiktion geworden war.
Assange empfing den Reporter in einem Konferenzzimmer, er traf dort über die Jahre auch viele andere Menschen. Zu denen zählten auch die ehemalige Hollywoodschauspielerin Pamela Anderson und der Popstar Lady Gaga. Assange, so sah es eine Weile aus, unterhielt einen regelrechten Salon für Leute, die sich gern mit ihm schmückten (und mit denen er sich umgekehrt schmückte). Zugleich wurde geraunt, Assange nehme es mit der Körperhygiene und dem Aufräumen nicht so genau; überhaupt gebe es Beschwerden des Botschaftspersonals darüber, wie sich Assange so verhalte und benehme. Man konnte das als gelebte Widerständigkeit verstehen bis ins Banale einerseits und ins Glamouröse andererseits. Assange hatte sich nie an Regeln gehalten, das war Teil seiner Erzählung, der als Held wie der als Schurke.
Mann ohne Land
Und eigentlich war Assange schon immer ein Mann ohne Land gewesen, ein früher permanent couchsurfender Laptoparbeiter im Dienste der Enthüllung von Regierungsgeheimnissen, ein Umherreisender ohne festen Wohnsitz. Bis zu dem Punkt, an dem Assange im Juni 2012 in die ecuadorianische Botschaft eingezogen war als Flüchtiger und dann dort Asylgenießender. Ob und wie sehr Julian Assange dort ein von der Welt nicht nur zunehmend Vergessener war, sondern auch Verlassener, weiß letztlich nur er selbst.
Denn: Wie groß der Unterstützerkreis von WikiLeaks je wirklich war, wie groß also das Reich, über das Assange gebot, war zu keinem Zeitpunkt der Existenz dieser Organisation je klar. Geheimhaltung war nicht nur eine notwendige Strategie von WikiLeaks, was die Herkunft und Beschaffung der Dokumente betraf, die die Plattform veröffentlichte; die Zahl der Menschen, die bei WikiLeaks mitarbeiteten oder die Organisation finanziell unterstützten, auch geheim zu halten, war offenkundig eine frei gewählte Strategie. Letzteres war, ob gewollt oder nicht, Teil der Selbstmythologisierung von WikiLeaks als Hacker- und Netzaktivistenkollektiv. Die wirkte wie aus der Urzeit aller Träume vom Internet als großer Befreiungsmaschine: Das Netz würde die völlige Transparenz der realen Welt herstellen, und eine klandestine Gruppe von Entschlossenen konnte dank des Internets gegen die dunklen Mächte riesiger Regierungsapparate antreten. Wie groß die Gruppe wirklich war, das war nicht entscheidend für die Schlagkraft ihrer Veröffentlichungen.
Diese relative Intransparenz von WikiLeaks war dann zugleich aber auch eine Einladung zum Beispiel vor zwei Jahren an den damaligen CIA-Chef und heutigen US-Außenminister Mike Pompeo, WikiLeaks offiziell als “non-state hostile intelligence service” einzustufen, als einen nichtstaatlichen, feindlichen Geheimdienst. Ob dieser intelligence service womöglich aus kaum mehr als einem einzigen Mann bestand, der in der ecuadorianischen Botschaft um seinen WLAN-Zugang kämpfen musste, konnte Pompeo egal sein. Entscheidend war für den CIA-Chef, WikiLeaks nicht als journalistisches Medium anzuerkennen. Ein solches hätte nach amerikanischem Recht die vom ersten Verfassungszusatz garantierte Freiheit nicht nur der Rede umfasst, sondern auch des Publizierens von als geheim eingestuften Dokumenten.
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