Die neuen Pässe sind schon da. “United Kingdom of Great
Britain and Northern Ireland” steht auf dem burgunderroten Dokument. Der
bisherige Zusatz “European Union” fehlt. Immerhin, seine alte Farbe hat der
Pass noch; demnächst aber soll er wieder blau sein mit goldenem Aufdruck, so
wie er vor hundert Jahren in Gebrauch kam.
Neue Pässe – da waren ein paar Beamte wohl zu schnell. Noch ist
Großbritannien Mitglied der EU. Aber hatte sich Premierministerin
Theresa May nicht seit Langem auf den Austrittstermin festgelegt? Am 29. März
2019 sollte es vorbei sein mit der Herrschaft der Brüsseler Bürokraten über
Londons Angelegenheiten.
Indes, der 29. März verstrich, und die Brexiteers, die schon
den Champagner kaltgestellt hatten, um den neuen britischen “Unabhängigkeitstag”
zu feiern, fürchten nun, auf unabsehbare Zeit in der verhassten Europäischen Union bleiben zu müssen. Seit Theresa May mit der oppositionellen Labour Party über
einen parteiübergreifenden Kompromiss verhandelt, haben sie vollends die
Contenance verloren, sinnen auf Rache und kündigen Obstruktion an. Nur noch
raus aus der EU, lautet ihre Parole. Notfalls ohne Abkommen.
Großbritannien wird es schon überleben.
Ein No-Deal-Austritt aber ist der unwahrscheinlichste
Ausgang, wenn sich die Staats- und Regierungschefs der EU an diesem Mittwoch in
Brüssel wieder einmal zum Sondergipfel treffen. Einige von ihnen sind das Chaos
in London zwar gründlich leid und wollen ihrerseits einen Schlussstrich ziehen.
Mancher Beobachter traut Emmanuel Macron einen “De-Gaulle-Moment” zu, ein
schneidiges farewell des französischen Staatspräsidenten an die Adresse der
Briten.
Aber am Ende wird wohl die Einsicht siegen, dass ein harter
Brexit allen Europäern schaden würde, nicht nur den Briten. Also wird man
Theresa May die am vergangenen Freitag erbetene Verlängerung bis zum 30. Juni
zubilligen. Oder den Briten noch viel mehr Zeit einräumen.
Donald Tusks Vorschlag ist vernünftig
Am weitesten ist bisher Ratspräsident Donald Tusk gegangen. Tusk
hat eine “flexible Verlängerung” bis zu einem Jahr vorgeschlagen. Demnach
hätten die Briten bis Ende März 2020 Zeit, um sich über ihren Weg aus der EU zu
verständigen und dafür die Zustimmung Brüssels zu finden.
Dieser Vorschlag ist vernünftig. Denn er würde erlauben, diese Entscheidung ruhig zu durchdenken. Martin Wolf, der wirtschaftspolitische
Chefkommentator der Financial
Times, plädiert dafür, diese Chance beherzt zu ergreifen. Seine
Argumentation: Ein vertragsloses Herausstolpern aus der Union wäre unverantwortlich;
das von Theresa May ausgehandelte Abkommen sei im Unterhaus drei Mal
durchgefallen, für eine Zustimmung sei weiterhin keine Mehrheit in Sicht.
“Damit bleibt die Mitgliedschaft in der EU als einzige vernünftige Option.” Das
aber setze ein zweites Referendum voraus, und dafür brauche Großbritannien eine
lange Verschiebung des Austrittstermins.
Martin Wolf hielt den Brexit schon immer für eine verrückte
Idee. Aber es ist
nicht zu übersehen, wie sich die politische Landschaft verändert, seitdem
Theresa May den Versuch aufgegeben hat, die Brexit-Hardliner in ihrer
Konservativen Partei zum Einschwenken auf eine weichere Linie zu bewegen. Er
habe nicht übel Lust, das ganze Parlamentsgebäude zu zerlegen und die Trümmer in die Themse zu werfen, sagte einer von ihnen.
Die Proeuropäer machen mobil
Die harten Brexiteers sind außer sich. Die Anhänger eines
Verbleibs in der EU wittern Morgenluft. In London hat sich eine Gruppe der
Unabhängigen (The Independent Group) gebildet, darunter acht ehemalige
Labour-Abgeordnete und drei bisherige Tory-Parlamentarier. Sie wollen die
Europawahlen, an denen das Land bei einer Verschiebung des Brexit teilnehmen
muss, zu einem Ersatzreferendum machen. Die Proeuropäer in Großbritannien machen
mobil. Endlich.
Wie immer die Staats- und Regierungschefs entscheiden: Alles deutet darauf hin, dass die Briten am Freitag, dem 12. April, nicht ohne Abkommen die EU verlassen werden. Wahrscheinlicher
ist, dass sich May mit Labour auf eine Kompromisslinie verständigt, im Kern auf
ein Verbleiben in der Zollunion. Aber um das auszuhandeln, braucht es Zeit, und
die wird die EU den Briten wohl gewähren.
Und wer wollte ausschließen, dass es während dieser
Verlängerung zu Neuwahlen kommt, möglicherweise auch zu einem zweiten Referendum?
Und dessen Ergebnis dann anders ausfällt als beim ersten Mal 2016?
Auf den Reisepässen jedenfalls hat sich Großbritannien
schneller von der EU verabschiedet als in der Wirklichkeit. Ob mit oder ohne
“European Union”: Gültig ist der Pass in beiden Varianten.
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