Dieser Tage erreichte
mich per E-Mail ein Aktionsaufruf des baden-württembergischen Städtetags, meine
(Sing-)Stimme für Europa zu erheben: nämlich “Freude, schöner Götterfunken” anzustimmen, aufzunehmen und ins Netz
zu stellen. Das ist ein bisschen albern und ein bisschen naiv, und die
musikalische Qualität des Votums wird vermutlich äußerst dürftig ausfallen,
aber die Initiative illustriert trefflich das Chorische des Unterfangens
Europa.
Die mittlerweile
reichlich kommerzialisierte populäre Variante der Stimmerhebung gibt es in
Gestalt des Eurovision Song Contests bereits
seit 1956, ausgerichtet von der EBU, der Europäischen Rundfunkunion. Aber
Harmonie kann nicht verordnet werden, und Wohlklang darf keinesfalls der Zuckerguss
auf schrillen Misstönen und sozialen Verwerfungen sein. Die Auseinandersetzung
um den diesjährigen ukrainischen Beitrag zum Song Contest – der Sängerin Maruv wird
zu große Nähe zu Russland vorgeworfen – zeigt, dass das Politische und
Strategische auch in Bereiche eindringt, die als unpolitisch gelten, wie zum
Beispiel der Unterhaltungsbereich. Maruv
hat für sich die Konsequenz daraus gezogen und ihren Auftritt in Tel Aviv, dem
diesjährigen Austragungsort, abgesagt.
Das sollten
Kulturschaffende, Bildungsbeauftragte und Künstler, überhaupt alle Bürgerinnen
und Bürger, finde ich, gerade nicht: Absagen und Abgesänge gibt es zuhauf. Das
Mittel der Wahl derzeitiger Politik – nicht nur in der EU – ist immer öfter die
Disruption, der Bruch, die Zerstörung. Der Brexit ist dafür das eindrücklichste
Beispiel. Aber auch diesseits des Ärmelkanals werden Verträge aufgekündigt,
Vereinbarungen ignoriert, Richter ohne rechtliche Grundlage in den Ruhestand
versetzt, Gesetze per Handstreich auf den jeweiligen Machtinhaber zugeschnitten.
Das entspricht dem binären, sprunghaften Code des Digitalen: 0 1 0 1. Es kennt
keine Kontinuität, keine Entwicklung und keine Geschichte, sondern nur die
Mechanik der Digits. Kultur und Kunst dagegen sind einem anderen Code verpflichtet:
dem der Kontinuität und wechselnden Spannung, altmodisch gesagt: dem Analogen.
(Wobei damit keinesfalls gesagt sein soll, dass die Künste vom Digitalen nicht
auch profitieren. Aber das ist ein anderes Paar Schuhe.) Die Kontinuität ist
diskursiv, die wechselnde Spannung sorgt für Korrektive.
Wir, die
Künstler und Kulturschaffenden, sind in besonderem Maße aufgerufen, die
Esperanto-Qualität von Kunstwerken und Bildungsangeboten – “keiner Zunge fremd”, wie es in Joseph Haydns Schöpfung heißt –
offensiv einzusetzen und zur Darstellung zu bringen, als Vermittler, als
Störenfriede, als Quer-, Frei- und Mitdenker. Wir sollten ein Europa vertreten
und verteidigen, welches als Kulturraum verstanden wird, auch wenn, vielmehr
gerade weil es als Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) gegründet wurde
und im aktuellen Kürzel EU nicht aufgehen sollte. Wir sollten den echten
Lobbyisten, die die Hand nur ausstrecken, wenn eine andere sie wäscht,
Konkurrenz machen, als Lobbyisten, die für ein vereinigtes (nicht unbedingt in
allen Hinsichten einiges) Europa eintreten, das sich als lebendiges Zentrum der
viel beschworenen Wertegemeinschaft in der Verantwortung sieht – aber nicht
zentralistisch sein will, mit dem Wasserkopf Brüssel und dem Kunstherz Schengen.
Eine Wertegemeinschaft ist kein abgesteckter Claim, sondern ein dynamisches,
vitales, gefährdetes, immer zu hinterfragendes, zu erneuerndes und zu
pflegendes Gebilde.
Pflege – da sind
wir erneut bei der Kultur. Das heutige Europa ist als EU überwölbt vom neoliberalen
Primat des Ökonomischen. Die Weichen dafür wurden vor vierzig Jahren gestellt,
wie man in der profunden Studie Zeitenwende 1979 des Historikers Frank Bösch
eindrucksvoll nachlesen kann. Aber unter
unseren Städten, Ackerflächen, zersiedelten Gewerbegebieten, ausgedehnten
Wäldern, Seen, Flüssen und Bergen, im ständigen Hautkontakt mit uns, liegen die
Ermordeten und die Toten zweier Weltkriege, bei fast jeder Großbaustelle gibt
es Bombenalarm und kommt es zu einer Evakuierung der umliegenden Siedlungen, in
unseren Meeren (Außengrenzen!) ertrinken Abertausende auf der Flucht. Europa hat frische Wunden – und teilt ein
Narbengewebe.
Soll Nabokov,
alias Pnin, mit seiner pessimistischen Einschätzung, dass Humanität und
Humanismus erst als Humus zur wahren Vollendung finden, also dann, wenn wir
alle zu Asche und Staub zerfallen, recht haben, recht behalten? Oder können wir
Künstler, Kulturschaffenden, Bildungsbeauftragten in der Wirklichkeit des
heutigen Europas durch unsere Literatur, unsere Filme, Theaterstücke, Schulen,
Volkshochschulen und Universitäten eine lebendige Kontinuität, einen lebendigen
Austausch bewerkstelligen? Der die Dichotomien überwindet – der Toten und der Lebenden,
der Einheimischen und der Geflüchteten, der Mächtigen und der Ohnmächtigen?
Können wir die Gesellschaften, in deren Mitte wir wirken, kritisch begleiten
und beleuchten? Kann das in einem politischen Europa gelingen, das im Begriff
ist, Ego-Zentren auszubilden, in alte, verheerende Zeiten nationalistischer Partikularinteressen
zurückzufallen, demagogisch aufzurüsten? Einem Europa, in dem die Beschwörungen
(außer sonntags, da geht es auch mal um Werte) meist der EU als Währungs- und
Handelsunion und als Wettbewerber im globalen ökonomischen Kontext gelten? In einem Europa, in einer Welt, in der das
politische Mittel der Wahl, wie ausgeführt, immer öfter die Disruption ist? Und
Abbrüche folglich als Aufbruch verkauft werden? In einer Welt, in der, bei allem
Segensreichen, das die Möglichkeit der Vernetzung zu bieten hat, die Einladung
zur Wortmeldung allzu oft als Aufforderung zur Selbstermächtigung verstanden
wird? Insbesondere in den sozialen Medien verleitet die Pseudoteilhabe zum
Pöbeln statt zum mündigen Diskurs, und das Modell der Repräsentation,
wesentlich für parlamentarische Demokratien, wird klammheimlich ausgehöhlt.
In einem als
Kulturraum gedachten und verstandenen Europa gibt es selbstverständlich (und
gottlob) Kontraste und Unterschiede, aber diese müssen nicht zwingend zu
Antagonismen und Konkurrenz führen, sondern können einen vitalen Stromfluss –
der zwei entgegengesetzte Pole braucht – generieren, an dem wir alle, nicht nur die Künstler und
Kulturschaffenden, teilhaben können: als Übersetzer der wechselnden Spannungen
in die jeweils heimische. Als echte Transformatoren. Immer vorausgesetzt, dass
die sozialen Ungerechtigkeiten auszugleichen die Herzensangelegenheit sowohl
nationaler wie europäischer Politik bleibt – oder muss man sagen: endlich
wieder wird?
Ich habe keine
abschließende Antwort auf die gestellte Frage nach dem Gelingen des Glücksfalls
Europa. Aber wir müssen darauf bestehen,
dass das Diktum “keiner Zunge fremd” in
allen Bereichen gilt: ethnisch, religiös, sozial. Und wir müssen unsere erste Bürgerpflicht
ernst nehmen: die Wahl. Und Politiker und Parteien wählen und fordern, die sich
dafür einsetzen, dass Argumente, nicht Behauptungen zählen, dass Einsicht, und
nicht Angst, Entscheidungen herbeiführen muss, dass Mitgefühl und Solidarität Gesellschaften
befrieden, und nicht egozentrische Interessenvertretung und Abschottung. Wir
müssen Politiker fordern und wählen, die wissen, dass zur Aussteuer einer
offenen, demokratischen Gesellschaft Kunst und Kultur unabdingbar dazugehören
und vor kommerzieller Ausbeutung beziehungsweise dem Gebot der
Profitmaximierung geschützt werden müssen. Die wissen, dass Bildung ein Gut
ist, das unabhängig von Verwertungszusammenhängen zu würdigen ist und für alle
erreichbar sein sollte. Wir müssen Politiker fordern und wählen, die die
europäische Idee nicht ausverkaufen als eine Wirtschaftsunion, sondern ihr
restituieren, was sie ausmacht: ein Kulturraum zu sein, in dem wir uns nicht
nur zollfrei, sondern frei, mündig und schöpferisch bewegen können.
Das Reittier einer
solchen Europa – die nicht entführt werden muss vom Zeus-Stier, sondern sich
auf Reisen begibt – könnte dann durchaus
der Pegasus sein, das geflügelte Wesen der Fantasie, robust gebaut, aber zartbesaitet. Übrigens in schöner Ausgestaltung im Giebelfresko von Münchens
Nationaloper zu bestaunen. Pexit – Austritt des Pegasus aus der Gemeinschaft
der Weitsichtigen? Undenkbar! Er ist nicht nur geflügelt, sondern auch beflügelt:
vom Zusammenhalt des Kontinents Europa. Und wir, die Träumer des Denkbaren, müssen
für den nötigen Aufwind unter seinen Schwingen sorgen, damit die Gefahr eines
Strömungsabrisses gebannt ist. Unter anderem bei der Europawahl am 26. Mai ist dafür
ausgezeichnete Gelegenheit.
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